Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)
riet Mutter oft, in der Wirtschaft oder bei Verwandten, sodass mich die anderen möglichst im Profil sahen. «Guck nicht so bös, Mädle», hörte ich manchmal auf der Tanzfläche. Nicht unfreundlich, ermunternd meist, von irgendwelchen unbekannten Burschen, die nicht sofort begriffen, was mit mir los war. Es war eben äußerst anstrengend, mich in der Menge der Tanzenden zu orientieren, den Rhythmus oder ganz simpel meinen Partner nicht zu verlieren, und das stand mir im Gesicht.
Von Zeit zu Zeit hab ich den Spiegel zu Rate gezogen. Ganz nahe davor sah ich ein Stück Nase, unscharf natürlich und auch nur für einen kurzen Augenblick, dann beschlug das Glas von meinem Atem. Mein altes Hilfsmittel, das ich schon in der Kinderzeit anwendete, mir mit Hilfe von Fotos Klarheit zu verschaffen, hab ich damals nicht probiert. Wer knipste, ging nie nahe an mich ran, aus Rücksicht vermutlich blieb der Fotograf in der Totalen – Magdalena auf dem Schlitten mit viel Berg, Magdalena in der Gruppe, hinten. Natürlich hätte ich jemanden um ein Porträt bitten können.
Dennoch musste ich irgendetwas an mir haben, was die Männer anzog. Sie haben mich anscheinend sehr gern angefasst. Mein Körper ist schön, habe ich daraus geschlossen, und mein Gesicht ist hässlich. Ist es so, dann ist es eben so. Den Vorschlag, mein blindes rechtes Auge kosmetisch zu schönen, hab ich abgelehnt. Die geschrumpfte Augenhöhle weiten und darin ein braunes Glasauge einsetzen, nein. Aus purem Trotz, ich gebe es zu: Ich bin ein stures Viech.
An dem Tag, an dem sich mein Leben wendete, trug ich einen lindgrünen Schal. Genauer gesagt, ich war von Kopf bis Fuß neu eingekleidet. Nach einem Winter voller Liebeskummer – meinen zweiundzwanzigsten Geburtstag hatte ich nicht gefeiert, zum ersten Mal die Fastnacht ausgelassen – habe ich mich aufgerappelt. «Die Magdalena muss wieder raus. Wir nehmen sie mit zum Abschlussfest vom Lesekurs.» Ein älteres Ehepaar aus dem Kurs gab den Anstoß.
April war, noch nicht ganz Frühling. Ich wollte endlich wieder probieren, schön zu sein, und zwar so, wie es richtig ist für mich. Ohne Mutter einkaufen, von selbstverdientem Geld! Zuerst kaufte ich ein zart beigefarbenes Kostümchen und eine Rohseidenbluse, Ton in Ton. Dazu, eine Nuance heller, ein Hütchen und einen federleichten Mantel mit großem Kragen, der bis auf die Schultern fiel. Alles passte zusammen, auch die Schuhe in Beige mit einer rostfarbenen Schnalle. Und es ging noch weiter, in genau diesem Rostton fanden sich Ziegenlederhandschuhe und eine kleine, feine Handtasche. Der letzte Pfiff: dieses schwebende Grün, der pastellige Schal vollendete die sündhaft teure Frühjahrsgarderobe. Zweihundert Mark kostete sie, mehr als ein ganzes Monatsgehalt bei der Post.
So steige ich im April 1955 in den Omnibus, der uns vor die Tore Freiburgs fährt, ins «Wilde Tal», setze mich an den langen Holztisch, zwischen die alten, aufgekratzten Damen, die Doktor Meckel, der liebenswürdigerweise mir gegenüber Platz genommen hat, anhimmeln. «Fräulein Eglin, was sind Sie elegant!» Man sagt es oft. Doch ich bin noch zu sehr in mir verkrochen, um es zu genießen. Vielleicht ist es auch der Lärm, der mich nervt, das Durcheinandergerede über Camus, Käsekuchen, Dauerwellen.
Auf einmal höre ich einen jungen Mann vom anderen Ende des Tisches, eine sympathische, fröhliche Stimme. Sie bestellt laut und bestimmt: «Meringe, Schlagsahne und Bier, bitte!» Was ist das nur für ein Idiot, denke ich, Süßes und Bier, das passt doch nicht. Nach dem Kaffee gehen die Ersten, im Laufe des Nachmittags rückt mir die Stimme näher. Die Gesellschaft am langen Tisch wird kleiner und kleiner, nur unser Dozent Meckel und einige Jüngere bleiben. Plötzlich sitzt die Stimme neben mir.
«Wieso haben Sie Meringe und Bier bestellt?»
«Ganz einfach», erklärt er. «Die Bedienung hat was falsch gebracht. Und ich dachte, wenn ich falsch bestelle, krieg ich das Richtige.» Das gefällt mir.
Inzwischen ist Vesperzeit, ich verlange saures Leberli mit Brägele und Feldsalat, und mein Nebenmann auch. Es gibt aber nur noch eine Portion, und dann haben wir ein Abkommen geschlossen: Wir teilen. Von einem Teller essen, das ist ungewöhnlich, wir sind uns fremd und natürlich per Sie. Konrad Weingartner heißt er, an seiner Sprache höre ich, er ist Schwarzwälder. Erst jetzt erkenne ich ihn, der Witzbold ist mein frommer, debattierfreudiger Gegenspieler aus dem Lesekurs. Wir unterhalten
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