Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)
Kollegen war anzumerken, dass auch ihm von all dem Grausigen ziemlich schlecht war.
Die Liebe war umstellt von Ängsten, von nagenden Zweifeln und den fürchterlichsten Gefahren. Vielleicht sollte ein Mensch wie ich darauf ganz verzichten? Bis aufs Küssen, Küssen wollte ich unbedingt. So viele Küsse einsammeln, wie ich nur eben kriegen konnte. Abends nach Einbruch der Dunkelheit am Münster, dort war ein lauschiges Eck, das man schwer einsehen konnte, im Rücken der Sandstein. Er war oft noch herrlich warm von der Sonne.
«Du bist so verlockend, Magdalena.»
«Ja?»
«Könnten wir nicht …?»
«Nein! Stell dir vor, ich krieg ein Kind und ich hab keinen Vater dafür.»
«Ach, bitte.»
Notfalls ging ich stiften. Nicht weil ich anständig war, nur aus Vernunft. Ein Kind schaffe ich nicht allein, das wusste ich genau. Auch, dass keiner der Jungen mich heiraten würde.
Schon bald drei Jahre war ich wieder in Freiburg. Mit aller Kraft hab ich versucht, Fuß zu fassen, und trotzdem war ich wie in einem Vakuum. Dabei hab ich so viel Leben in mich reingestopft, immerzu war ich auf der Suche nach Menschen. Jeden Abend nach dem Dienst, um fünf Uhr, schnell einkaufen, und auf zum Tanzen, ins Theater. Zur Uni, ich war eine notorische Schwarzhörerin, nach der Vorlesung wurde die halbe Nacht wild diskutiert. Ich war Dauergast in der Volkshochschule, Latein, Geschichte, Literatur.
«Was man lesen sollte!» Diesen Kurs besuchte ich jedes Semester, Leiter war Eberhard Meckel, ein Herr aus einer alten Freiburger Familie, dessen Vorfahren etliche Kirchen in die Landschaft gestellt haben, ein Schriftsteller und Zeitungskritiker. Und ein Kriegsteilnehmer, wie wir aus seinen Erzählungen schnell erfuhren, zuletzt war er Gefangener in einem Lager am Rande der Sahara gewesen. Durch ihn bin ich auf Camus aufmerksam geworden. «Die Pest» war das Erste, ein Buch, das mich zunächst abgestoßen hat, tief erschreckt, und das ich am Ende des Semesters großartig fand. Pest, die Strafe für Unmenschlichkeit, sie trifft auch die Unschuldigen, schrieb dieser Albert Camus. Der Hauptheld, der Nächstenliebe übt und Courage zeigt, Dr. Rieux, ist ausgerechnet ein Atheist. Könnte, sollte ich auch so eine Atheistin werden? Viele hielten mich für eine, weil ich schwarze Pullover trug und rauchte.
Im Lesekurs hockten hauptsächlich alte Damen, etwa hundert, schätze ich. «Ach, Herr Doktor Meckel, das ist ja fabelhaft, die Beschreibung dieser Rose.» Es handelte sich um Saint-Exupérys «Der kleine Prinz». Man hatte das Gefühl, die falten die Hände vor der Brust und werfen die Augen hoch. «Und die Schmetterlinge erfrieren im Winter», rief ich dazwischen, «und fallen bums vom Stängel.» Bei meinen Einwürfen lachte von hinten ein junger Mann, er hatte eine schöne, schwingende Stimme. Mit ihm kriegte ich mich ab und zu in die Wolle. Er vertrat zu allem immer einen konservativen Standpunkt und ich einen modernen.
Im Herbst bekam ich einen Brief in Punktschrift von meiner Marburger Jugendliebe: Magdalena, ich heirate. Wir hatten uns kurz zuvor noch einmal getroffen, vor seinem Jura-Examen, bei ihm zu Hause in Koblenz. Bei mir war, nicht ganz überraschend, der Liebeskummer wieder aufgebrochen. Wir hatten lange nebeneinander gestanden, und er hatte nicht von einer Zukunft gesprochen. Vier Wochen nach Eintreffen der Vermählungsanzeige heiratete er. Eine Sehende. Eine Krankenschwester.
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Im wilden Tal
Mein Gesicht, vermute ich, sieht aus wie ein Amerikaner. Wie das runde Gebäck mit einer hellen und einer dunklen Hälfte. Asymmetrisch – links ein braunes, lebhaftes Auge, auf der rechten Seite ein weißlich blaues, das fast zugefallen ist. Dazu gehören eine kräftige Nase, die von der Wurzel sanft ansteigt und zu einem richtigen Kolben wird, mit neugierigen Löchern vorn, und ein voller, sehr roter Mund. Ich hab meine Lippen nie geschminkt, nur draufgebissen, das erfrischt die Farbe.
Wie sehe ich aus? Als junge Frau hat mich das sehr beschäftigt, ganz besonders wie mein Gesicht aussah. Alle, die mich sehen, müssen es abstoßend finden, dachte ich, eine Zeitlang empfand ich selbst Abscheu davor. Niemand äußerte sich darüber. Wie jede Heranwachsende sehnte ich mich nach Mitteilung: «Ach, du hast schöne Haut. Du hast schöne Haare.» Das wäre ja unverfänglich gewesen, aber kein Mensch hat es gesagt, wahrscheinlich aus Angst, dann auch das andere sagen zu müssen.
«Magdalena, setz du dich dahin»,
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