Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)

Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)

Titel: Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Lachauer
Vom Netzwerk:
denkt der, Sie sind nicht aufrichtig.» Ihrer freundlichen Ermahnung folgend, täuschte ich den Sehenden Blickkontakt vor – und es ging. Es half, nicht nur im Büro.
    Auf meine Bitte hin versetzte mich die Chefin in ein ruhiges Schreibkämmerle. Es war eigentlich ein Stück Hausflur, abgeteilt mit einem Schrank. Darin saß Ilse, eine deftige Mannheimerin, die einen Hüftschaden hatte. Als junges Mädchen war sie angefahren worden und konnte ganz schlecht laufen. Wir zwei waren ein tolles Gespann: «Die Lahme und die Blinde», haben wir immer gewitzelt, «sind zusammen unschlagbar!» – Ich hab alles Laufende erledigt, Akten rumgeschleppt, oder ich bin mit dem Trittleiterle ins Regal geklettert. Ilse hat meine Texte Korrektur gelesen. «Schreib es nochmal, Magdalena, es sind zu viele Fehler drin.» Wenn ich mich nur ein, zwei Mal vertippt hatte, machte sie das für mich, mit dem Korrigierstift drüber und fertig, das konnte sie natürlich viel schneller. Weil Ilse sehr gut war in Organisation und Höflichkeit, wurde sie nach zwei Jahren ins Vorzimmer des obersten Behördenchefs versetzt, und ich mit, auf ihren dringenden Wunsch hin, ihr würde sonst «der Laufbursch» fehlen.
    Das Amt und ich wilde Hummel, wir würden nie zusammenpassen, das war vom ersten Tag an sonnenklar. Karriere machen? Selbst wenn da eine Karriereleiter gewesen wäre, die ich hätte erklimmen können, nein. «Karriereleiter», meiner Erinnerung nach kam das Wort damals gerade auf. Leitern hab ich eigentlich sehr gemocht, seit meiner Kindheit war ich total fasziniert davon, auf ihnen stieg ich in der Malerwerkstatt hoch zum «Umbra» oder «Neapelgelb», mit ihrer Hilfe kam ich in die für mich unsichtbare Spitze des Apfelbaums. Und mit der höchsten Leiter, dachte ich als Kind, kommt man vielleicht bis in den blauen Himmel.
    Meine Abneigung gegen das Büro wuchs von Monat zu Monat. Sieben Jahre würde ich es aushalten müssen – sieben Jahre dienen, wie es in der Bibel heißt. Meine Überlebensmaxime war: Der Tag hat 24 Stunden. 8 davon gehören dem Staat, also der Deutschen Bundespost, 8 braucht mein Körper zum Essen und Schlafen, und 8 gehören mir, da mach ich, was ich will, und nicht, was andere wollen. So hab ich es später immer wieder gemacht – sobald ich in Arbeit zu ertrinken drohte, hab ich das Dreiphasensystem wieder eingeführt: Pflicht, Körper, Freude.
    Jeden Morgen OPD, Oberpostdirektion. Wer diktiert mir heute? Jesses, hoffentlich nicht der mit der schrecklichen Stimme! Bitte nicht einer, der drei Stunden an einer Kurznachricht herumstottert! Was leider häufig passiert – aus meiner Stenomaschine kommen dann endlos Streifen, Wörter, Satzanfänge, Dutzende gestammelter und wieder verworfener Gedanken in Punktschrift, am Ende habe ich eine ganze Stenorolle vollgeschrieben und sitze verzweifelt in dem Haufen von Bandwürmern. Darin muss ich das Wesentliche finden, mit den Fingern, wohlgemerkt. Abtippen, rattatam, rattatam, der Kopf brummt. Vorlage an den Beamten, und dann ist Mittag.
    Essensschlange in der Kantine, aufpassen, wer hinter dir steht. Du stehst am Schalter, und du spürst eine Hand, jemand fängt an, deinen Hintern seltsam zu bearbeiten. Ich keile nach hinten aus. «Ruhe!» Der Mann: «Du wärst froh, wenn dich mal jemand anlangen täte.» Ein Vorgesetzter. Es sind immer ältere, höhergestellte Typen. «Du brauchst dir gar nicht einbilden, dass du zählst.» Bei Betriebsfesten das Gleiche, mitten im Walzer rubbelt dir einer am Busen rum. Und ich beiße zu, in den Daumen, was ich gerade erwische. Das ist Gewalt, heute würde so was in der Zeitung stehen. In den fünfziger Jahren hat man dafür wenig Empfinden, wir sind noch nahe am Krieg. Von ehemaligen Soldaten muss man sich möglichst fernhalten. Das bissle Angrapschen, was ist das schon? Junge Männer, die meines Alters, sind diesbezüglich nicht so hinterlistig.
    Eines Tages kam mir in der OPD eine schreckliche Kriminalgeschichte zu Ohren. Es kam vor, dass ich Protokolle von Disziplinarfällen aufnehmen musste, Wertsachendiebstahl, Briefmarkenklau meistens, was Postbeamte eben so ausfressen. Diesmal ging es um einen Mann, der seine heimliche Geliebte geschwängert und ihr das Kind aus dem Leib geholt hat. Minuziös wurde alles beschrieben. Der Betriebsaufsichtsbeamte diktierte: «… mit der Stricknadel gebohrt.» – «Wie bitte?» Ich war völlig perplex, mit solchen Dingen hatte ich noch nie zu tun gehabt. Sechs Stunden hat das Diktat gedauert, dem

Weitere Kostenlose Bücher