Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)
und Schwester, durchzubringen. «Was sollte Mutter anderes tun?»
Konrad erzählte, er klagte nicht. «Unser Pfarrer hat halt gesagt, der Konrad hat gute Noten. Den geben wir nach Konstanz ins Gymnasialkonvikt, der wird später Priester.» 1945, im größten Durcheinander, haben sie den Zehnjährigen losgeschickt. «Fertig ab. Zum Bahnhof.» Auf der Sauschwänzlebahn fuhren er und einige ebenfalls auserwählte Kameraden nach Süden, die kurvige Strecke war unterwegs immer wieder unterbrochen.
Mir war, als müsste ich diesen Jungen, der durch die Nacht fährt, beschützen. Ich sah ihn vor mir, ein Hindenburglicht im Pappkarton auf den Knien, und folgte atemlos den weiteren, von vielen Pausen unterbrochenen Schilderungen und Erklärungen. Wir lehnten jetzt aneinander.
«Bist nie weggelaufen?»
«Doch, ein Mal.»
Mit vierzehn habe ihn mal das Heimweh überwältigt, und er habe nicht mehr ins Internat am Bodensee zurückgewollt. «Du bleibst bis zum Abitur, Konrad!» Mit diesen Worten lud ihn der Pfarrer ins Auto. «Was du nachher machst, bestimmst du.»
Nachher, mit bestandenem Abitur, ist Konrad dann doch im Theologieseminar gelandet. «Man konnte schwer sagen, man will nicht.» Immerhin hatte die Kirche die Ausbildung finanziert und sich auf lange Zeit seiner angenommen. Sich aus der Pflicht, vor allem aus dem Schuldgefühl zu lösen, das musste wirklich äußerst schwer sein. «Ich muss mein Eingesperrtsein erst verdauen, Magdalena», entschuldigte er sich.
Danach wusste ich, ich mag ihn. Vielleicht waren wir im Sommer 1955 schon beinahe ein Liebespaar. Für mich war es das große Umbruchsjahr, das auf jeden Fall: Zum ersten Mal ließ ich mich von einem Mann anfassen und hatte keine Angst, gefressen zu werden. Konrad war, was Frauen angeht, völlig unerfahren. «Mir fehlt so viel an Wissen, Magdalena.» Wir waren jetzt so vertraut, dass er Fragen stellte. «Was ist eigentlich eine Camelia?» Ich hatte ihm gegenüber einen kleinen Vorsprung an Wissen, aber wie Worte finden für diese Dinge? Wir tasteten uns ganz langsam vor in unseren Zärtlichkeiten. Konrad war sehr behutsam, auch weil er selbst solche Angst gehabt hat. Wenn er zwischenzeitlich mal zu stürmisch wurde, zog ich die Bremse.
Ich erinnere mich, wie er auf einem Ausflug mit einem anderen Mädchen schäkerte. In seiner Stimme war dieses Gurren, ihr Lachen klang unbeschwert, beneidenswert heiter. Die beiden schlenderten vor mir her, und ich bebte. «Du küsst mich ja so selten», parierte Konrad meinen Eifersuchtsanfall. Einmal wollte er mich am Schwabentor küssen, um uns herum waren viele Menschen. Da hab ich ihm dermaßen eine gelatscht, dass ich mich heute noch schäme. Ich war ein richtiges Stacheltier.
Ich war traurig, dass ich sein Gesicht nicht sehen konnte. Konrads Körper kannte ich inzwischen einigermaßen: mittelgroß und schlank, um die Mitte herum war er angenehm weich. Kein sportlicher Typ, eher einer von denen, die wie ein Mehlsack am Reck hängen. Was ihm, wie er erzählte, die Adolf-Hitler-Schule erspart habe, sonst nämlich wäre er mit acht Jahren als guter Schüler, der er war, unweigerlich dort, auf der Insel Reichenau, gelandet. Bei aller Abneigung gegen Leibesübungen, er hasste sie geradezu, war er kräftig. Konrad war körperliche Arbeit gewohnt und mochte sie, ich spürte es, wenn ich seinen Arm fasste, er mich bei der Hand nahm. Feste, mitunter raue Finger hatte mein Freund, ein reizvoller Kontrast zu seinem feinen, philosophischen Geist.
«Was füre Farb hän dine Auge?»
«Guck halt.»
Es war ein heller Wintertag, wir waren in seinem Dachstüble. Zuerst wanderte ich mit den Fingern auf seinem Gesicht herum, später legte ich mein linkes Auge nacheinander auf alle Partien und linste. Zum ersten Mal im Leben durfte ich das Gesicht eines Menschen ausgiebig erkunden, solange ich wollte. Sanft gewelltes braunes Haar hatte Konrad, es hat sich gut angefühlt, nicht zu kurz, dass es wie ein Soldatenkopf gewirkt hätte. Eine nicht sehr hohe Stirn im Vergleich zu mir, eine weiche, rundliche Gesichtsform. Pickel, sogar ziemlich viele, auf blasser Haut. Ich fuhr langsam über seinen Mund und öffnete ihn, und stellte fest, er hatte leuchtend weiße Zähne. Besonders schön fand ich seine Augen, braune Rosinenaugen. Immer wieder fing ich von vorn an, vom Kinn über die ganze wenig behaarte Bartregion zur Nase, und seitlich weiter zu den ausgeprägten, fleischigen Ohren ins Haar. Jedes Mal nahm ich einen anderen Weg durchs
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