Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)
überhaupt kann, oder mich aushorchen, wie ich es denn mache «ohne Augen». Das ist Konrads und mein Geheimnis gewesen, vierzig Jahre lang habe ich unter seinem Namen geschrieben, heute schreibe ich unter meinem eigenen. «Weiß ich doch längst», lachte mein jetziger Redakteur, als ich 2001 mein Inkognito lüftete. «Wurde auch Zeit, Frau Weingartner!»
Galina ist die Erste gewesen, die dahinterkam, sie hat ungefähr verstanden, wie Konrad und ich zusammenarbeiteten.
«Du fragst viel, Magdalena?»
«Ja. Es gibt hundert Wege, etwas herauszufinden.»
Über Gemeinderatssitzungen zum Beispiel, Konrad musste da oft dienstlich hin. Mir waren die Herren Politiker nur vom Hörensagen bekannt. Konrad berichtete mir sehr genau, das konnte er gut, und ich habe nachgefragt: War der sehr böse? Wie hat der von der SPD sich benommen? Ist der Bürgermeister ausfällig geworden? Die Mimik der Anwesenden interessierte mich, meine alte Leidenschaft für Gesichter ist durch das Zeitungsschreiben wieder erwacht. «Kann man sagen, ein versteinertes Gesicht?» – «Ja, Magdalena.» Gerade spröde Debatten über Kanalisation oder Finanzen ließen sich lebendig gestalten, indem man die Gesichter beschrieb.
«Seine Mundwinkel hatten einen Zug von Entschlossenheit. So?»
«Könnte man so sagen.»
«Oder zeigte sich die Entschlossenheit des Bürgermeisters mehr in den Augen?»
«Nein, ich glaube nicht.»
Selbstverständlich las Konrad jeden Artikel, bremste mich, präzisierte, wenn nötig. Mit seiner Hilfe schrieb ich, am Ende las er Korrektur, unterzeichnete und «fertig ab». Mir tat die Arbeit gut, dadurch konnte ich systematisch mein Repertoire an Menschenkenntnis erweitern. Wieder mal lernen, mich der Welt der Sehenden annähern, meinen Werkzeugkasten erweitern, um mich mit ihnen zu verständigen. Zeitweise habe ich akribisch Wortlisten geführt, Thema: «Die Ausdrucksmöglichkeiten des menschlichen Gesichts»:
Mund: Verräterisches Zucken, spöttisch verzogene Mundwinkel, das Lachen verkneifen, Schmollmund, Hohnlachen, zynisches Lachen.
Augen: Verbiestert gucken, Funken in den Augen, glasige Augen, böse Augen, Liebesaugen, stierer Blick.
Zu jedem hatte ich mehr oder weniger Erfahrungen und mehr oder weniger ausgeprägte Phantasien. Über den Mund mehr – ein «Schmollmund» lässt sich tasten, bei Konrad etwa schiebt sich die Unterlippe über die Oberlippe, und oft kommt beim Schmollen noch ein Ton heraus, ein gebrummtes «O». Über die Augen weniger – ihre Ausdrücke, Zustände, dieses leise, mit keinem anderen Sinn, nur durch das Sehen zu erfassende Spiel blieb mir weiterhin verborgen. «Glasige Augen» hatten Betrunkene, so viel hab ich gewusst, ich konnte sie einem Wortfeld und einer Befindlichkeit zuordnen. Und Schluss.
Zweimal hatte ich die vier Jahreszeiten hier erlebt, und allmählich erschloss sich mir das Dorf. Es war nicht heil, es war nicht nett, es stemmte sich auch nicht tapfer gegen den Lauf der Zeit – ein Dorf eben, das wie viele damals leise und unaufhaltsam verschwand, dem die Behörden in der Stadt Jahr für Jahr androhten, es werde demnächst seinen Mittelpunkt, die Schule, verlieren. Dennoch war es eine Art Gemeinwesen geblieben, bestimmte Dinge regelten die Bauern immer noch selbst. Die Holzaktion zum Beispiel, jedes Jahr im Juni wurde Holz gemacht für Schule und Lehrerwohnung. Morgens rückten zehn Männer an, jeder mit Axt und Spaltklotz, stellten sich im Kreis auf dem Hof auf, links zur Straße hin, in respektvollem Abstand der Wirt mit seiner Motorsäge, und dann ging es los. Sssiiiiiiii, tack-tack-tack, sssiiii, tack-tack-tack, drei Stunden großes Konzert, Lachen, Schwitzen, bis ein gigantischer Haufen sich türmte. Dann liefen die Schüler los, brachten, unter Konrads Regie, das Holz Korb für Korb in den Keller, auf den Speicher, in den Holzschopf, überallhin, wo Platz war. Anschließend Schokoladenpudding – das war meine Erfindung. Wer arbeitet, muss auch feiern! Am Vortag hatten einige Bäuerinnen die Milch dafür vorbeigebracht, vierzig, fünfzig Portionen habe ich gekocht.
Heute leben in Tonberg und Umgebung nur noch ein paar vereinzelte Menschen. Und statt der Kühe gibt es Hunderte von Ziegen, sie halten die Landschaft von Buschwerk frei, damit sie nicht völlig verwildert.
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Guter Hoffnung
An einem warmen Tag im Mai haben Konrad und ich zusammen im Garten gearbeitet, und plötzlich flog uns beiden das Frühstück aus dem Gesicht. Erst kotzte ich,
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