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Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)

Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)

Titel: Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Lachauer
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nicht», scherzte sie, meine Gedanken erratend. Sie kannte natürlich die Dorfgerüchte. Eine Aristokratin war sie zweifellos. Nachdem vor Jahren ihre zweite Liebe zerbrochen war, hatte sie sich hierher zurückgezogen, «um in der Einsamkeit eine geistige Welt zu erleben». Lindle war der Name ihres zweiten Mannes, der ebenso wie der erste Arzt war, ein Chirurg. In Marburg!
    Mit einem Mal machte es ‹klick!›. Diese Stimme? Die kannte ich doch! Unsere Wege hatten sich schon einmal gekreuzt, stellten wir gemeinsam fest, etwa zehn Jahre zuvor. Galina Lindle hatte am Rande unserer Blindenschule gelebt, sie war die feine Dame, die sich öfter über uns Schüler beschwert hat, wir sängen Nazilieder. Ihr Verdacht machte mich nachträglich sehr verlegen, und ich bemühte mich nach Kräften, ihr alles genau zu erklären. Musiklärm von hundertzwanzig Schülern, sechs Klavieren und zwei bis drei Akkordeons, das könne sich schon mal fürchterlich anhören, wenn die das «Ave verum» verjuxen. Oder Schumanns «Zigeunerleben». Oder grölen «Schwarz wie Kohle ist der Neger Jim», ein blödes Lied, das den tolerantesten Nachbarn auf die Palme bringen könnte, aber ganz bestimmt kein Nazilied.
    Galina habe ich fast so viel zu verdanken wie meinem Großvater Daniel Eglin. Sie war meine Lehrerin in Gartendingen, geduldig, sehr genau. «Du gibst dir so viel Mühe, Magdalena. Komm in meinen Garten, ich zeige dir, wie es geht.» Riesig war der. Als Erstes stürzte ich mich auf die leuchtend orangen Blumen. «Das ist Geum, Nelkenwurz auf Deutsch.» Viele Pflanzennamen lernte ich, Wachstumszeiten und -formen, wie man pflanzt und wohin, wer miteinander leben mag. «Die vertragen sich nicht, Magdalena. Du musst mehr Raum lassen zwischen ihnen, jede Pflanze braucht Platz und Luft zum Entfalten.» Rittersporne waren ihr Spezialgebiet, was auf tausend Meter Höhe, wie sie sagte, viel Geschicklichkeit erfordere. Von einer zartblauen Sorte, die ich sehr bewunderte, «Friedensglocke» genannt, gab sie mir mal eine Wurzelknolle mit. Manchmal hat sie unvermittelt etwas in meine Hand geschoben, einen kleinen Käfer zum Beispiel. «Nimm ihn, schau ihn dir an. Ganz vorsichtig.»
    Galina war, glaube ich, aus Heimweh zum Garten gekommen. Wie alle Russen liebte sie die Natur. Und auch die körperliche Arbeit, obgleich sie eine Adelige war, die von Hause aus gelernt hatte, diese Dinge von Bediensteten machen zu lassen. Ihren Mädchennamen habe ich übrigens nie erfahren.
    Sie ist viel gereist, wohin, wusste niemand genau. Ganze Monate war sie nicht in Tonberg. Im Herbst hatte sie irgendwas mit den Vorbereitungen der Verfilmung von «Doktor Schiwago» zu tun, als Übersetzerin, vielleicht auch als Beraterin. Während einer der Gesellschaften, die sie alle paar Monate gab, war mal davon die Rede. In einem Vorort von Madrid, erzählte sie, hätte man für die Dreharbeiten zwei Moskauer Straßen nachgebaut. Und sie sprach von Omar Sharif, «der den Jurj spielt, der kann sogar richtig weinen». Ein Mann, der weinen kann, das imponierte Galina seltsamerweise.
    An diesen intellektuellen Runden durfte ich teilnehmen. Von meinem etwas abseits stehenden grünen Sessel aus, den die Gastgeberin eigens für mich reservierte, habe ich mit großen Ohren gehorcht, was sich da tat, und versucht, im Stimmengewirr einem Thema zu folgen. Um Nationalsozialismus ging es, um Kuba, Architektur, um Maler wie Malewitsch, Picasso. Oder ich bin einer einzelnen Stimme gefolgt, am liebsten einem Psychoanalytiker, Alexander Mitscherlich, ein Name, der mir damals noch nicht viel gesagt hat. Die Mitscherlichs waren häufiger bei Galina zu Gast, aus Freiburg der Leiter des russischen Chors, Alexander Kresling. Aufmerksam und ehrfurchtsvoll habe ich Ideen und Geschichten in mich aufgesogen. «Kritik» war in Galinas Haus ein ungeheuer wichtiges Wort, praktisch alles und jedes ist der Kritik unterzogen worden.
    «Ach, die Kirrrche, Kindchen», seufzte Galina manchmal. Selbst war sie keine Kirchgängerin, wahrscheinlich auch nicht gläubig, dennoch sprach sie begeistert und ausdauernd mit Konrad über das Alte Testament – und er mit ihr, diese russische Ketzerin faszinierte ihn. Es gibt kaum einen toleranteren Menschen als Konrad, jeder ist für ihn interessant, das kann ein Afrikaner sein, ein frommer Muslim, ein Trinker oder Landstreicher. Und du musst außerdem immer damit rechnen, dass er ihn mit nach Hause schleppt. In unserem zweiten Schwarzwälder Jahr hat er mal unterwegs

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