Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)
zwei Pilze suchende Chinesen aufgelesen und sie zum Vesper im Schulhaus eingeladen. Zwei Männer aus Mao Tse-tungs Reich, Christen, die nach Deutschland geflohen waren, wo sie sich ausgerechnet im Wald bei Tonberg verlaufen hatten.
Unser abgeschiedenes Nest war nicht das, was es auf den ersten Blick zu sein schien. Und wir waren damit nicht unzufrieden, ganz im Gegenteil. Ein Nachmittag beim General hat jeden Theaterbesuch ersetzt. «Nehmen Sie, Platz, bitte.» Galant komplimentierte mich der alte Herr in den Garten, dort stand für Gäste ein geflochtener Bienenkorbsessel, der einem indischen Maharadscha Ehre gemacht hätte. Meistens haben wir einfach dagesessen und schwarzen, süßen Tee getrunken. Zwischendurch räsonierte er über eine Schlacht in Italien, die er verloren hatte. Bruchstücke nur – ein Berg spielte eine Rolle und ein gestohlenes Gemälde von Leonardo da Vinci, Tote, viele Tote, er hat mal die Zahl Dreißigtausend genannt. Mitunter schien er noch ganz im Krieg zu sein, er befehligte Panzerdivisionen, «übers Meer, nach Sizilien!». In seinen Erzählungen ist alles ineinander verschwommen, Vergangenes und Gegenwärtiges, Wunschträume und Wahn. In dem Waldstück gegenüber der Terrasse hat er immer gegen Abend Gestalten gesehen.
«Da drüben tanzen die Nebelfrauen», sagte er dann.
«Wie viele sind es denn heute?»
«Heerscharen, Madame! Wieder mal ganze Heerscharen!»
Wenn ich eines Tages einen Sohn bekäme, versprach er mir, «hoch und heilig», er war nämlich nicht nur General, sondern auch ein Erzkatholik, «dann werde ich ihn mit Zylinder begrüßen». Konrad hat er manches Mal für seinen Adjutanten gehalten, woraufhin dieser fröhlich die Hacken zusammenknallte und salutierte. Absurdes Theater, wie in einem Stück von Ionesco bin ich mir manches Mal vorgekommen. «Das Atombömble des Dorfschullehrers» war eines der Worte, die der General und Konrad gemeinsam kreierten. Beim Botanisieren war ihnen das stehende Leinkraut begegnet – wenn man auf dessen Fruchtknoten draufhaut, gibt es bekanntlich eine kleine Detonation.
«Gibt es wieder Krieg?»
«Lass doch das Grübeln, Magdalena!», schimpfte Konrad.
Anfang der sechziger Jahre setzte die alte Angst wieder ein. Wie ist das in Berlin, in der Bernauer Straße, wenn jemand da oben im dritten Stock winkt und von unten einer auf ihn schießt? Beim Bügeln hatte ich im Radio eine lange Reportage über den Mauerbau in Berlin gehört. Dabei sah ich die Erasmusstraße in Freiburg vor mir, in der Mitte durchgeteilt. Soldaten, getrennte Familien. Auf welcher Seite war ich? Das Bild der Mauer hat mich seitdem nicht mehr losgelassen. Im Sommer 1961 gewöhnte ich mir an, beim Radiohören immer etwas zu tun. Kartoffeln schälen, bügeln, etwas basteln – Hände bewegen hilft, aufkommende Panik im Zaum zu halten.
Selbst auf den Schwarzwaldhöhen wurde es in diesem Sommer, unserem zweiten gemeinsamen, Konrads drittem hier oben, brüllend heiß. Eines Sonntags lehnte ich am Zaun in meinem gelben ärmellosen Kleid und dachte an Freiburg, an den Kibbuz, an Paris und was Vater von bunt leuchtenden Fenstern in Notre-Dame erzählt hat. In meinem Inneren breitete sich heftige Sehnsucht aus, von Minute zu Minute wurde sie stärker, eine fast vulkanische Hitze. Hinter mir, im Apfelbaum, rumorte Konrad. «Chruzitürke nonemol!», brummelte er und schmiss mit Getöse ein paar wahrscheinlich wurmstichige oder von Wespen zerfressene Äpfel runter. War das nun das Leben, das wir gewollt hatten? Das ich gewollt hatte? Ja, das war es. Trotz der Unruhe, die gerade wieder aufflammte. Sie wird nie ganz verschwinden, auch das wurde mir in diesem Moment klar. Fortgehen, weite Reisen? Ich würde der Unruhe nirgends entkommen. Gut ist es hier, bleiben ist gut, bleiben an der Seite eines Felsens.
Mittlerweile war im Alltag vieles Routine geworden. Deswegen schlug Konrad mir vor, Artikel für die «Badische Zeitung» zu schreiben. Eigentlich war das seine Aufgabe, eine der damals zahlreichen Pflichten des Dorfschullehrers: Er hatte Zeitungskorrespondent zu sein. Nach Möglichkeit auch Organist, was einer der Gründe war, warum der unmusikalische Konrad keinesfalls in ein Kirchdorf gewollt hatte. Auch den Gesangsverein musste der Lehrer leiten, aber den gab es in Tonberg Gott sei Dank nicht. Als Repräsentant ländlicher Kultur nahm er an Gemeinderatssitzungen teil, und bei großen Geburtstagen im Dorf vertrat er die kommunale Obrigkeit.
«Sehr geehrter, lieber Lehrer
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