Maggie O'Dell 03 - Schwarze Seele
versuchte er es wieder und nahm sie am Ellbogen, um sie von der Menge wegzuführen.
„Ihr zwei haltet das wohl für lustig!“
„Nein, keineswegs.“ Er sprach so ruhig er konnte, musste aber wegen des Lärms ringsum die Stimme erheben. „Können wir später darüber reden?“
„Ja, Mom. Du bringst mich in Verlegenheit.“
Tully sah sich um, ob sie beobachtet wurden. Doch die Anwesenden schienen auf die Bühne fixiert zu sein. Er ließ den Blick suchend schweifen und sah Brandon und das Mädchen nicht mehr. Allmächtiger! Jetzt war es passiert!
Er konnte sein Mikro nicht benutzen, oder Caroline ließ seine Tarnung wirklich auffliegen. Stattdessen wandte er sich an Emma und den jungen Mann, den er eindringlich ansah und drängte: „Bitte, geht jetzt hier weg!“
Daraufhin entfernte er sich und überhörte die Beschimpfungen, die Caroline ihm vor ihrer Tochter nachrief. Er schob sich durch die Menge, teilte den anderen flüsternd mit, was er tat, und versuchte herauszufinden, was zum Teufel Racine machte.
Wieder war sie die Einzige, die nicht antwortete.
74. KAPITEL
Kathleen prüfte alle Toilettenkabinen. Gut. Keine besetzt. Sie bedauerte, die Eingangstür nicht abschließen zu können. Aber von innen gab es kein Schloss. Und einen Stuhl, den sie unter den Griff schieben konnte, hatte sie auch nicht. Vielleicht war das gar nicht nötig. Sie hörte, dass die Gebetsversammlung begonnen hatte. Hoffentlich wurde sie nicht gestört.
Sie ließ ein Waschbecken mit warmem Wasser voll laufen, doch der Strahl verebbte nach wenigen Augenblicken. Wassersparhähne! Auch das noch. Wenn das so weiterging, brauchte sie ewig. Sie drückte wieder das „On“-Zeichen auf dem Hahn und legte Papiertücher aus. Albern, warum brauchte sie Papiertücher?
Sie griff in die Tasche und holte das Rasiermesser aus Reverend Everetts Bad heraus. Mit zitternden Händen versuchte sie die Klinge aus dem Messer zu ziehen. Sie brauchte mehrere Versuche. Warum gelang es ihr nicht, die Finger still zu halten? Das war lächerlich. Sie machte das doch nicht zum ersten Mal.
Endlich.
Sie legte die Klinge vorsichtig, fast ehrfürchtig auf ein Papiertuch. Der blöde Wasserhahn hatte sich schon wieder abgestellt. Sie drückte erneut. So bekam sie das Spülbecken nie voll, aber vielleicht brauchte sie es gar nicht. Vielleicht war es ihr egal, ob es wehtat oder nicht. Vielleicht war ihr überhaupt alles egal.
Sie sah sich um und stutzte, als sie ihr Spiegelbild entdeckte. Es machte ihr Angst, genauer hinzusehen. Sie wollte in ihrem Gesicht nicht die Spuren von Verrat, Versagen, Selbstvorwürfen und Schuldgefühlen lesen. Denn diesmal hatte sie wirklich versucht, das Ruder herumzuwerfen. Sie hatte mit dem Trinken aufgehört und geglaubt, ihr Leben in die richtigen Bahnen zu lenken und ihre Selbstachtung wiederzufinden. Sie hatte sich geirrt. Sie hatte sogar versucht, Maggie die Wahrheit zu sagen. Zugegeben, eine schmerzliche Wahrheit, die Maggies Hass auf sie nur verstärkt hatte. Sie konnte nicht mehr.
Sie hielt die Klinge zwischen Daumen und Zeigefinger, als die Eingangstür aufging.
Die junge Frau blieb stehen, sobald sie Kathleen sah, und ließ die Tür hinter sich zufallen. Sie trug eine Baseballkappe über kurzem blonden Haar und eine lederne Bomberjacke zu Jeans sowie alte, ausgelatschte Stiefel. Sie stand wie angewurzelt, sah Kathleen an und erkannte den Gegenstand in ihrer Hand. Allerdings wirkte sie weder überrascht noch besorgt. Stattdessen sagte sie lächelnd: „Sie sind Kathleen O’Dell, nicht wahr?“
Kathleens Herz schlug schneller, doch sie regte sich nicht und versuchte die junge Frau einzuordnen. Ein Mitglied der Kirche war sie nicht.
„Tut mir Leid“, sagte die junge Frau und trat einen Schritt vor, verharrte jedoch sofort, als Kathleen eine Bewegung machte. „Wir sind uns nie begegnet.“ Sie sprach mit freundlicher, ruhiger Stimme, doch ihr Blick wanderte immer wieder zur Rasierklinge in Kathleens Hand. „Ich bin Julia Racine. Ich kenne Ihre Tochter, Maggie. Ich sehe die Ähnlichkeit.“ Sie lächelte wieder. „Maggie hat Ihre Augen.“
Kathleen fürchtete, ihr drehe sich vor Schreck der Magen um. Verdammt, warum konnte man sie nicht einfach in Ruhe lassen? Sie hielt die Klinge fester und drückte sie gegen ihr Handgelenk. Die scharfe Kante versprach Wärme und Stille und ein Ende des pochenden Schmerzes im Kopf und der Leere im Herzen.
„Ist Maggie hier?“ fragte sie mit kurzem Blick zur Tür, als erwarte sie,
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