Maggie O'Dell 03 - Schwarze Seele
KAPITEL
Tully trank seine Cola, dankbar für die Unterbrechung. Wenhoff hatte die Fahrerlaubnis und die Fingerabdrücke der Siebzehnjährigen ins Labor hinaufgebracht. Tully war jedoch klar, dass sie weder Vorstrafen noch Vermisstenanzeigen über Virginia Brier finden würden. Die hellen Bikinikonturen auf dem im November noch gebräunten Körper verrieten ihm, dass Virginia nicht das typische Hochrisikoopfer war. Sie war weder Prostituierte noch Abschaum oder heimatloses Straßenkind. Er schätzte, dass sie aus gutem Hause stammte, Mittel- oder Oberschicht. Irgendwo warteten ein Vater und eine Mutter darauf, dass sie endlich heimkam, oder wurden verrückt vor Sorge, weil es noch zu früh war, die Polizei über ihr Verschwinden zu informieren. Er dachte daran, wie er gestern Abend auf Emma gewartet hatte. Sie war nur zwanzig Minuten zu spät gekommen, aber was, wenn ...
„He, Tully!“
Er merkte, dass O’Dell ihn wieder besorgt ansah.
„Alles okay mit Ihnen?“
„Ja, alles okay, ich bin nur müde. War letzte Nacht zu lange auf.“
„Ach wirklich? Heißes Rendezvous?“ Racine hievte sich mit dem Gesäß auf eine Arbeitsplatte, was ihr dank langer Beine mit einer einzigen Bewegung gelang.
„Ich bin mit meiner Tochter aufgeblieben, und wir haben uns Fenster zum Hof angesehen.“
„Jimmy Stewart und Grace Kelly? Ich liebe diesen Film. Ich wusste gar nicht, dass Sie verheiratet sind, Tully.“
„Geschieden.“
„Okay.“ Detective Racine lächelte ihn an, als sei sie froh darüber. Die meisten Menschen murmelten irgendeine Entschuldigung, was er auch nicht verstand.
Er warf O’Dell einen Blick zu, die vorgab, mit Beweisbeuteln beschäftigt zu sein, anstatt auf Racines Flirten zu achten. Zumindest glaubte er, dass Racine mit ihm flirtete. Er war nicht gerade ein Meister darin, solche Annäherungsversuche zu bemerken. Wenigstens beherrschte sich O’Dell jetzt gegenüber Racine, als könnte Nettigkeit dafür entschädigen, dass sie ihr die Sache mit den Zyanidkapseln verschwieg. Er war nicht sicher, ob es gut war, Informationen zurückzuhalten. Schließlich war das hier Racines Fall und nicht ihrer. Sie waren nur in helfender und beratender Funktion dabei.
Tully fragte sich immer noch, warum Cunningham und das BSU zu dem Fall hinzugezogen worden waren. Wer hatte den Anruf getätigt und was wusste derjenige? Hatte jemand bereits eine Verbindung zwischen diesem Mädchen und den fünf toten Jungen aus der Hütte hergestellt? Und wenn ja, wer und wieso? Offensichtlich war es niemand von der städtischen Polizei, denn Racine schien ahnungslos zu sein.
Ihm war flau in der Magengegend, die Cola half allerdings. Es ging ihm gut, solange er sich auf die Fakten des Falles konzentrierte und nicht daran dachte, dass die Tote Emma hätte sein können. Er fragte sich, was dieses Mädchen von anderen unterschied? Warum hatte der Täter sie ausgewählt?
„Okay, ihr zwei“, sagte Racine. „Ich möchte wissen, was Sie wissen.“
Tully schoss einen Blick in Richtung O’Dell. Hatte Racine gemerkt, dass sie ihr etwas vorenthielten?
Ehe einer von ihnen antworten konnte, fügte Racine hinzu: „Da wir noch Zeit übrig haben, erzählen Sie mir etwas über den Täter auf Grund der Beweislage. Ich muss hier raus und mit der Suche nach dem verdammten Psychopathen anfangen. Sie sind die Profiler. Sagen Sie mir, wonach ich suchen muss.“
Tully entspannte sich und hätte fast erleichtert geseufzt. O’Dell hatte mit keiner Wimper gezuckt. Sie war gut, beeindruckend gut. Sie kannten sich noch nicht sehr lange, aber er wusste, dass O’Dell besser lügen konnte als er. Er ließ ihr den Vortritt bei der Beantwortung von Racines Fragen.
„Bisher deutet alles darauf hin, dass der Täter organisiert ist.
Racine nickte. „Okay, ich weiß, was organisiert heißt im Gegensatz zu unorganisiert. Ersparen Sie mir das Fachchinesisch. Ich bin auf Besonderheiten aus.“
„Für Besonderheiten ist es noch zu früh“, erklärte O’Dell.
Tully fand, O’Dell war nicht nur schwierig im Umgang mit Detective Racine, sondern auch zu vorsichtig.
„Ich schätze, er ist zwischen fünfundzwanzig und dreißig Jahre alt“, sagte Tully. „Überdurchschnittlich intelligent. Er geht vermutlich einer geregelten Arbeit nach und wirkt auf sein Umfeld sozial kompetent. Er ist nicht zwangsweise ein Eigenbrötler. Vielleicht ist er sogar ein bisschen arrogant, ein Angeber.“
Racine klappte ein kleines Notizbuch auf und kritzelte das Gesagte
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