Maggie O'Dell 03 - Schwarze Seele
worden war. Entweder Everett war unschuldig und hatte nichts zu verbergen, oder aber - und das vermutete sie eher - er war abergläubisch und glaubte nicht, dass der Blitz zweimal am selben Ort einschlug.
Falls ihre Vermutung zutraf, konnte er sich in seinem Glauben bestätigt fühlen. In den letzten zehn Jahren hatten er und seine Kirche keinerlei Arger mit dem Gesetz gehabt - keine Anhörungen bei der Steuerbehörde, kein Vergehen gegen Waffengesetze, keine Vergehen gegen Bauvorschriften und keine Gebietsstreitigkeiten. Das illegale Waffenlager in der Hütte in Massachusetts war die erste Gesetzesübertretung, und die konnte auch nur lose mit Everetts Kirche in Verbindung gebracht werden. Tatsächlich schien alles ziemlich glatt zu laufen für den guten Reverend. Er hatte sogar ein paar mächtige Freunde im Congress, die ihm erlaubt hatten, in Colorado eine Parzelle Regierungsland zu einem skandalös niedrigen Preis zu kaufen. Wenn alles so gut lief, warum wollte er dann hier dicht machen und nach Colorado umziehen?
Maggie war sich nicht sicher, wie eng ihre Mutter mit Everett und seiner so genannten Kirche verquickt war. Von einem war sie jedoch überzeugt: Der Mann war eine Zeitbombe. Und obwohl es nur Indizienbeweise gab, wusste sie, dass er irgendwie mit Ginny Briers Tod und der Wasserleiche in North Carolina zu tun hatte. Es war ein zu großer Zufall, dass diese Frauen starben, während Everetts Versammlungen in unmittelbarer Nähe stattfanden. Was die namenlose Obdachlose anging, nun ja, die blieb ihr ein Rätsel.
Die kalte Herbstluft kühlte sie aus, doch sie hielt das Fenster offen, atmete tief durch und füllte die Lungen mit Pinienduft und den Verkehrsabgasen der 1-95. Sie brauchte absolut wache Sinne für ihr Gespräch. Auch ohne Streit war es schwierig genug, mit ihrer Mutter in einem Raum zu sein. Es gab zu viele unangenehme Erinnerungen. Zu viel Vergangenheit stand zwischen ihnen, aber Maggie war es recht so.
Vor über einem Jahr war sie das letzte Mal in der Wohnung ihrer Mutter gewesen. Obwohl sie bezweifelte, dass Kathleen sich daran erinnerte. Wie sollte sie auch? Die meiste Zeit war sie sinnlos betrunken gewesen. Maggie überlegte, wie sie ihren Besuch erklären sollte. Sie konnte ja nicht gut sagen: „Hallo, Mom, ich kam gerade vorbei und wollte sehen, wie es dir geht. Und ach übrigens, wusstest du, dass dein hoch gepriesener Reverend Everett vielleicht ein gefährlicher Irrer ist?“ Nein, so konnte sie nicht vorgehen.
Sie verdrängte für einen Moment, was sie aus den FBI-Akten und von Eve über Everett wusste, und versuchte sich zu erinnern, was ihre Mutter ihr über den Reverend erzählt hatte. Zu ihrer Schande musste sie gestehen, dass sie nie richtig zugehört hatte. Anfänglich war sie nur erleichtert gewesen, dass sich jemand um Kathleen kümmerte. Nach Monaten ohne Selbstmordversuch hatte sie gehofft, Kathleen habe endlich eine weniger destruktive Sucht entdeckt oder einen Weg gefunden, die Aufmerksamkeit, nach der sie lechzte, ohne Einlieferung in die Notaufnahme zu erlangen.
Als sie später merkte, dass ihre Mutter mit dem Trinken aufgehört hatte, war sie zunächst skeptisch geblieben. Das wäre zu schön gewesen, um wahr zu sein. Die Sache musste einen Haken haben. Die plötzliche Nüchternheit hatte vielleicht Kathleens Gewohnheiten verändert, aber nicht ihre Persönlichkeit. Sie war immer noch so egoistisch, bedürftig und engstirnig wie immer, jedoch konnte sie ihr Gebaren nun nicht mehr mit Trunksucht entschuldigen.
Dass Kathleen plötzlich zu Gott gefunden hatte, war ihr hochgradig suspekt. Die wenigen Male, die sie zur Messe gegangen waren, konnte Maggie an den Fingern einer Hand abzählen. Sie erinnerte sich nicht, dass ihre Mutter jemals Bemerkungen gemacht hatte, die man auch nur entfernt für religiös hätte halten können.
Von Religion hatte Kathleen immer nur gesprochen, wenn sie betrunken war. Dann hatte sie sich gerne als genesende Katholikin bezeichnet. Gegen Katholizismus gebe es nämlich keine Kur. Woraufhin sie geprustet hatte vor Lachen und jedem, der es hören wollte, sagte, ein bisschen katholisch sein, das sei so wie ein bisschen schwanger sein.
Der katholische Glaube war etwas, an dem Kathleen O’Dell aus rein opportunistischen Gründen festhielt. Was Maggie überzeugte, dass Everetts Bibelpauken an sie verschwendet war. Da ihre Mutter in den letzten Monaten nicht plötzlich angefangen hatte, Psalmen und Evangelien herunterzubeten, gab es wohl
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