Maggie O'Dell 03 - Schwarze Seele
keine wundersame religiöse Wandlung. Zumindest keine, die Maggie sehen konnte.
Sie sah nur dieselbe zwanghafte, vorurteilsbeladene und suchtgefährdete Frau, die endlich jemanden oder etwas gefunden hatte, dem sie die Schuld an den Härten ihres Daseins und ihrem Unglück geben konnte. Reverend Everett versorgte sie mit einem bösen Übeltäter in Form der Regierung der Vereinigten Staaten, einem gesichtsloses Wesen, und somit einem willigen Prügelknaben, solange Kathleen O’Dell sich einreden konnte, ihre Tochter habe nichts mit dieser Regierung zu tun.
Genauer betrachtet, fand sie es gar nicht so seltsam, dass ihre Mutter sich von Everetts Art Religion und seiner Version der Realität angezogen fühlte. Hatte Kathleen O’Dell nicht jahrelang am Altar von BCD, Beam, Cuervo und Daniels, gebetet? Es hatte Zeiten gegeben, da diese Frau für eine Flasche Jack Daniels ihre Seele verkauft hätte. Dass sie nicht mehr trank, bedeutete nicht notwendigerweise, dass ihre Seele nicht mehr käuflich war. Kathleen hatte lediglich eine verzerrte Sichtweise gegen eine andere getauscht, eine alte Droge gegen eine neue.
Maggie verstand, wie groß die Verlockung für jemand war, der seine Version der aktuellen Nachrichten dem National Enquirer oder der Sendung Hard Copy entnahm. Wie berauschend musste es für Kathleen sein, sich einzubilden, sie besitze nun Insiderkenntnisse in nationalen Fragen und jemand mit dem Charisma und Charme des guten Reverend respektiere sie und vertraue ihr. Sie glaubte, endlich leichte Antworten auf schwierige Fragen zu bekommen, die sich andere ein Leben lang stellten.
Maggie hatte einige solcher Antworten gehört, die Männer vom Schlage eines Everett verbreiteten: paranoide Fantastereien. Diese Typen bekamen Macht durch ihren Hass. Die Beherrschung ihrer Anhänger durch Angst war eine der erfolgreichsten Strategien. Sie wunderte sich jetzt, dass sie schulterzuckend über die Bemerkungen ihrer Mutter wegen Chemie im Trinkwasser, verborgenen Regierungskameras in Bankautomaten und über ihre Hysterie, nicht mehr mit Handy telefonieren zu wollen, weil „die Möglichkeiten hätten, solche Gespräche abzuhören“, hinweggegangen war.
Warum hatte sie die verräterischen Signale nicht schon vor einiger Zeit bemerkt? Oder war sie so froh darüber gewesen, nicht mehr das chaotische Leben ihrer Mutter regeln zu müssen, dass es ihr gleichgültig gewesen war?
Irgendwo hatte sie mal gelesen, dass Alkohol lediglich Eigenschaften in der Persönlichkeitsstruktur des Trinkers hervorhob, die ohnehin vorhanden waren. In Bezug auf ihre Mutter ergab das Sinn. Der Alkohol verstärkte ihre Sucht nach Aufmerksamkeit. Falls die These stimmte, erkannte sie allerdings die Ironie in den eigenen Trinkgewohnheiten. Sie trank gewöhnlich, um die innere Leere zu vergessen und sich nicht so einsam zu fühlen. Wenn der Alkohol genau diese Leere verstärkte, war es kein Wunder, dass sie sich so ausgelaugt fühlte.
Wie die Mutter, so die Tochter.
Maggie versuchte, die Erinnerung nicht hochkommen zu lassen.
Ihr zwei könntet Schwestern sein. Ich hab’s noch nie mit der Mutter und ihrer Tochter getrieben.
Diese verdammten einstürzenden inneren Barrieren. Sie griff nach der Coladose im Halter und trank den warmen, schalen Rest. Warum konnte sie sich nicht mehr an die Stimme ihres Vaters erinnern, spürte aber den Atem dieses Fremden auf ihrem Gesicht? Mühelos erinnerte sie sich an den säuerlichen Whiskeygestank und das Kratzen seiner Bartstoppeln, als er ihren kleinen Körper gegen die Wand gedrückt und versucht hatte, sie zu küssen. Sie spürte noch, wie er mit den Händen ihre gerade reifenden Brüste gestreichelt und ihr lachend erzählt hatte, er wette, sie würde dieselben großen Titten kriegen wie ihre Mama.
Und die ganze Zeit hatte ihre Mutter mit einem Glas Jack Daniels in der Hand dabeigestanden, hatte ihn zwar ermahnt, aufzuhören, war jedoch nicht eingeschritten. Warum nicht?
Maggie wusste noch, dass sie irgendwie geflüchtet war, aber nicht mehr, wie. Seit dem Vorfall war ihre Mutter mit den Männern stets in ein Hotel gegangen. Nächtelang, manchmal tagelang hatte sie ihre Tochter allein gelassen. Alleinsein war gut. Ein wenig unheimlich, aber weniger schmerzlich. Sie hatte früh gelernt zu überleben. Alleinsein war einfach der Preis fürs Überleben.
Während sie sich Richmond näherte, achtete sie wieder mehr auf den Verkehr, um ihre Abfahrt nicht zu versäumen. Sie versuchte die zunehmende
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