Magical
aufgewachsen wäre. Oder in einem Kloster. Oder in einem Zirkus, wo sie die Hauptattraktion unter den Schlangenmenschen gewesen sei. Dass ihre Mutter eine berühmte Tänzerin gewesen und Kendra selbst dieuneheliche Tochter des französischen Präsidenten wäre. Dass sie ihre vorige Schule verlassen musste, weil sie ein anderes Mädchen bedroht hatte, und dass das Mädchen dann verschwunden wäre. Natürlich machte sich niemand die Mühe, Kendra zu fragen, ob die Gerüchte stimmten. Die Klatschgeschichten machten mehr Spaß. Außerdem hatten die Leute Angst vor ihr.
An diesem Montag trug sie wie immer schwarz, ein Spitzenkleid, das aussah, als hätte sie es aus einem Secondhandladen. Mir fiel auf, dass es nur bis zu den Knien ging. Das hing mit einem anderen Gerücht zusammen, einem, von dem ich zufällig wusste, dass es stimmte – nämlich dass die Schule sie darum gebeten hatte, keine bodenlangen Röcke mehr zu tragen, unter denen eine Waffe versteckt sein könnte. Ich wusste, dass es stimmte, weil ich an dem Tag, als es passierte, im Sekretariat war und Mutter anrief, da ich Bauchschmerzen hatte. Kendra kam gerade aus dem Büro des Vertrauenslehrers, als ich unsere Nummer wählte. »Sie haben in Bezug auf die Kleidervorschriften soeben Geschichte geschrieben«, hatte sie gesagt. »Sie haben hier hundert Mädchen in Mikro-Minis, und mich bitten Sie darum, kürzere Röcke zu tragen.«
Kendra verbrachte viel Zeit im Büro des Vertrauenslehrers, ein weiteres Gerücht, das stimmte. Wenn Kendra im Unterricht war, passierte dauernd etwas, die Sprenkleranlage ging los oder die Regenwürmer, die wir im Biologieunterricht sezieren sollten, machten sich geschlossen auf den Weg zum Parkplatz. Und einmal lösten sich alleTennisbälle, die der Lehrer als Dämpfer an den Stuhlbeinen angebracht hatte, von den Stühlen und begannen im ganzen Raum herumzuhüpfen. Niemand konnte je Kendra eines diese Dinge anhängen. Sie passierten einfach, wenn sie da war.
Ich hatte nichts gegen sie. Aber sie war in drei von meinen Kursen, und in allen saß sie neben mir. Das bedeutete, wenn die Leute sie anstarrten, starrten sie auch mich an.
Im Moment balancierte sie die Spitze eines Stifts auf ihrer Fingerspitze und schaute ihn dabei konzentriert an. Ich kam nicht dahinter, wie sie das machte, aber sie war wohl schon eine ganze Weile dabei.
Mir war klar, dass Kendra wahrscheinlich nicht neben mir saß, weil wir so dicke Freundinnen waren, sondern deshalb, weil der Platz neben mir immer frei war. Vielleicht würde sich das jetzt, wo Lisette da war, ja ändern. Ich hoffte, dass ich mindestens einen Kurs mit ihr hatte.
»Hi«, sagte ich zu Kendra, weil das die Höflichkeit gebot.
»Hi, Emma.« Der Stift fiel klappernd zu Boden. Ms Dillon wies uns an, leise zu sein, weil der Treueschwur, den wir jeden Morgen auf die amerikanische Verfassung leisteten, gleich beginnen würde.
Während der Schweigeminute klopfte es an die Tür. Alle hörten auf zu tuscheln oder SMS zu schreiben und blickten hoch, um zu sehen, wer da kam. Dann bekamen sie große Augen.
Es war Lisette. Ihr Blick fand mein Gesicht, als hätte sie gewusst, dass ich da war, dann lächelte sie, bevor sie sich Ms Dillon zuwandte. »Ich heiße Lisette Cooper. Man sagte mir, ich sei in Ihrer Klasse.«
»Willkommen, willkommen, Lisette. Wir nehmen gerade Von Mäusen und Menschen durch. Da hinten ist noch ein Platz frei.«
Ich drehte mich um. Klar. Der freie Platz war direkt neben meiner ehemaligen besten Freundin Courtney, die dort mit ihrer neuen Clique saß, die aus Midori und Tayloe bestand. Lisette ging auf sie zu, doch beim Vorbeigehen ließ sie ein Blatt Papier auf mein Pult fallen.
Eine Nachricht? Ich schaute nach. Es war ihr Stundenplan. Fünf unserer sechs Kurse waren gleich, der einzige Unterschied war Deutsch Zwei, vierte Stunde. Lisette war in Spanisch Eins. Ich blickte zu ihr nach hinten. Hatte sie darum gebeten, den gleichen Stundenplan zu bekommen? Um vierundzwanzig Stunden sieben Tage lang mit mir zusammen zu sein? Sie lächelte und streckte die Daumen nach oben.
»Okay, dann«, sagte Ms Dillon gerade. »Was könnt ihr mir über die Romanfigur George Milton erzählen? Ja, Courtney?«
»Ich denke, er ist nach John Milton benannt, dem Autor von Das verlorene Paradies, und es soll seine Suche nach Utopia symbolisieren, genau wie Adam und Eva in Ungnade fielen, als sie aus dem Garten Eden verbannt wurden.«
In Ungnade fielen? Suche nach Utopia? Wer redete denn so?
Weitere Kostenlose Bücher