Magical
Courtney bestimmt nicht. Das hatte sie offensichtlich aus dem Internet oder vielleicht aus den Lektüreerläuterungen. Ich bezweifelte, dass sie das Buch überhaupt gelesen hatte. Früher, als wir Freundinnen waren, hatte ich ihr die Antworten zu jedem einzelnen Test für fortgeschrittene Leser gegeben, den ich je gemacht hatte, damit sie genug Punkte bekam. Die Lehrer hatten die Tatsache, dass wir stets genau die gleichen Bücher gelesen hatten, nie hinterfragt. Wenn sie es getan hätten, hätten wir gesagt, dass wir beste Freundinnen waren und alles zusammen machten.
In der sechsten Klasse hatte sich das dann geändert. Einen Monat, bevor wir in die Mittelstufe kamen, machte ich mit meiner Familie Urlaub in North Carolina, in den Bergen, wo der Handy-Empfang miserabel war. Ich nutzte jede Chance, die ich bekam, um Courtney eine SMS zu schicken, aber sie schrieb nicht immer zurück. Als wir zurückkamen, rief ich sie an. Immer wieder. Ungefähr nach dem fünften Versuch erhielt ich eine SMS von ihr, in der stand, dass sie beschäftigt wäre, aber dass wir uns am ersten Schultag sehen würden.
Doch als ich dort ankam, hatte sie sich in eine Clique von Mädchen eingenistet, die nicht auf unsere Grundschule gegangen waren – hübschere Mädchen, coolere Mädchen, Mädchen, die aussahen, als wären sie mit den besten Handys in der Hand auf die Welt gekommen, als wären sie dazu geboren, im Pulk herumzuhängen, Mädchen, derenEltern ihnen keine Vorschriften machten. »Hey, Courtney«, hatte ich gesagt.
»Hey«, antwortete sie, bevor sie sich kichernd wieder den anderen zuwandte.
Beim Mittagessen setzte ich mich neben sie, denn das hatte ich seit dem Kindergarten jeden einzelnen Tag getan. Selbst wenn wir nicht im selben Kurs gewesen waren, hatte ich mich immer an ihren Tisch geschlichen oder sie sich an meinen.
»Tut mir leid«, sagte sie. »Der Platz da ist für Midori besetzt.«
»Okay.« Ich machte mich auf den Weg zu dem Platz gegenüber von ihr.
»Und dort sitzt Tayloe.«
Der Platz schräg gegenüber von Courtney war frei, deshalb setzte ich mich dorthin. Als Midori und Tayloe auftauchten, machte uns Courtney nicht miteinander bekannt. Sie ignorierten mich alle.
Ich bin nie dahintergekommen, was ich getan, weshalb ich Courtneys Freundschaft verloren hatte. Die Tage vergingen und ich versuchte, mit ihr zu reden, aber sie tat so, als wüsste sie nicht, weshalb ich sie belästigte, und ihre neuen Freundinnen fingen an, auf mir herumzuhacken. Dann fing Courtney selbst auch noch damit an. Zu Hause fragte Mutter dauernd, warum ich Courtney nicht mehr einlud, bei uns zu übernachten. Als ich sagte, dass sie mich nicht mehr mochte, bot sie an, Courtneys Mutter anzurufen. Als ob das geholfen hätte.
Die ganze Sache war wie eine Scheidung. Als wir alles aufteilten, bekam Courtney meine Würde und ich das gebrochene Herz. Ich verstand das nicht. Beliebtheit war eine Art Wissenschaft, aber anders als in meinen Schulfächern brachte ich es darin nicht zur Klassenbesten.
Jetzt sagte Ms Dillon gerade: »Das ist genau richtig, Courtney. Noch jemand? Wie war George so? Emma?«
»Ähm …« Ich wand mich und sah auf meinen abblätternden Nagellack hinunter. Ms Dillon rief immer mich auf, weil sie wusste, dass ich die Antwort parat hatte, die sie hören wollte. Aber ich hasste das. Ich wusste, dass die anderen Schüler, dass Lisette glauben würde, ich sei ein Schleimer. Ich überlegte, ob ich die falsche Antwort geben oder sogar sagen sollte, ich hätte das Buch nicht gelesen. Wie wichtig waren Mittelstufennoten letztendlich schon? Aber irgendwie brachte ich das auch wieder nicht fertig.
»Er ist einsam. Darum geht es in dem Buch eigentlich, um die Einsamkeit der Wanderarbeiter. George hängt mit Lennie rum und tut so, als müsste er das, aber in Wirklichkeit ist er ein Eigenbrötler. Er passt nicht zu den anderen.«
Warum hatte ich das gesagt? Wie dumm! Natürlich hörte ich hinter mir ein Kichern. »Damit muss sie sich ja auskennen«, flüsterte jemand – vielleicht war es Midori.
Der Kommentar stach wie eine Qualle in ruhigem Wasser. Ich hatte gelernt, mich vor ihren Widerhaken in Acht zu nehmen, aber jetzt war Lisette da. Lisette, die vielleicht noch nicht gemerkt hatte, dass ich der größte Streber des Universums war. Warum mussten sie es mir mit ihr verderben?
Ich verspürte den Drang, mich umzudrehen und herauszufinden, ob sie es gehört hatte. Nein. Ich musste weiterreden.
»Aber George ist äußerst
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