Magie der Schatten: Roman (German Edition)
Beschimpfungen in seinem Ohr. Schließlich gab der Wicht auf und erlaubte ihm den Ausflug, weil er glaubte, er habe dort eine versteckte Bedrohung wahrgenommen.
Aber das traf nicht zu. Das, was ihn anzog, war weder versteckt, noch war es eine Bedrohung.
Menschen mit ergrauten Haaren liefen die Straßenzüge entlang und zogen Karren mit notdürftig in Tücher verpackten Habseligkeiten hinter sich her. Weder Soldaten noch Schattenkrieger hatten sich bislang hierher verirrt.
Dorian hielt vor einem Haus an. Wettergegerbtes Holz verbreitete den Geruch von Feuchtigkeit und Verfall. Die Tür stand offen.
»Hallo?«, rief er.
Eine buckelige alte Dame zerrte eine Truhe aus dunklem Holz über einen Teppich. Der Stoff wellte sich hoffnungslos, und die Dame kam kaum voran. Ächzend ließ sie die Truhe los und setzte sich auf den Deckel. »Ja?«, fragte sie zurück. »Oh, du siehst ja grausam aus. Die Fetzen an dir, meine ich.«
Dorian trat ein. Was wollte er hier überhaupt?
»Das waren sicher diese Feinde, die in die Stadt eingedrungen sind. Verschwinde rasch, das Nordtor ist nur ein paar Schritte von hier entfernt.« Sie blickte auf. Hinter dem verbrauchten Gesicht und den verblassten Augen verbarg sich etwas.
»Ich bin hier, weil ich … etwas suche. Kommt, ich helfe Euch mit der Kiste.« Er nahm den eisernen Griff an der Seite in beide Hände.
Die alte Dame erhob sich und fasste sich ins Haar. »Ach so? Wie ist denn dein Name? Mir entfallen die Dinge immer öfter, und am Ende bist du noch mein Enkel.«
»Das nun nicht.« Dorian zog und zerrte an der Kiste. Sie quietschte über die Dielen und rutschte schließlich über die Schwelle auf die Straße. »Mein Name ist Nairod.«
Er ließ die Kiste los, und sie krachte auf die Straße. Der Aufprall erschütterte das Holz. Nairod? Ja, der Name kam ihm bekannt vor. Er hatte ihn schon dem Jungen vor seinem Thron genannt – und dann hatte sich irgendetwas in seine Gedanken geschlichen und ihn wieder ausradiert, wie das Alter es bei der greisen Frau tat.
»Ein Nairod ist noch nie hier gewesen. Aber … ja, genau.« Sie legte einen Finger an die Lippen. »Meine Großmutter hatte eine Schwester. Die soll immer von jemandem erzählt haben, der so hieß. Ich selbst habe das nicht miterlebt.«
»Aber immerhin erinnert Ihr Euch.«
»Aufhören!«, krächzte es aus Nairods Tasche. »Es gibt hier für uns nichts zu tun.«
Die alte Dame betrachtete erstaunt den sprechenden Mantel.
Nairod hielt die Tasche zu. »Kümmert Euch nicht darum. Wo ist diese Schwester Eurer Großmutter? Kann ich sie sprechen?«
»Oh.« Die Alte setzte sich auf die Truhe vor ihrem Haus. »Sieh mich an. Und dann frag mich noch einmal, ob meine Großtante noch unter uns weilt.«
Ja, er hatte vergessen, dass Zeit für die Menschen etwas anderes bedeutete als für ihn.
»Lenia hieß sie … Sie ist weggegangen, bevor sie eine Frau wurde.«
Lenia. Noch so ein Name. »Was meint Ihr – weggegangen ?«
Sie strich sich über die Augen, als müsste sie unsichtbare Tränen fortwischen. »Meine Großmutter hat immer wieder von Lenia erzählt. Wir haben nicht einmal erfahren, was mit ihr wirklich geschehen ist. Aber … so ein schönes junges Ding. Auf dem Friedhof haben sie ihr einen Grabstein setzen lassen.«
Nairods Tasche erbebte, und eine Stimme brabbelte unablässig und unverständlich vor sich hin. Er hielt die Tasche zu, so fest er konnte. »Ich muss dorthin.«
»Bist du Nairod?« Wieder legte sie einen Finger an die Lippen. »Natürlich bist du es nicht. Nicht einmal, wenn du so viele Falten im Gesicht hättest wie ich, könntest du es sein.« Sie lächelte.
»Wo ist der Friedhof? Und das Grab? Sagt es mir.«
»Am Ende der Straße. Den Grabstein findest du neben der großen Krypta.«
»Verzeiht mir.« Nairod drehte sich um und rannte so schnell er konnte.
Sax kämpfte sich aus seiner Tasche hervor. Sein Haarschopf wurde vom Wind umhergewirbelt. »Geh zurück zu den Söldnern! Sofort.«
Wortlos rannte Nairod weiter.
Kurz vor dem Stadttor lag am Ende der Straße ein hoch umzäunter Friedhof. Nairod stieß das gusseiserne Flügeltor auf. Ein erdiger Geruch umgab den Ort, und seit Jahren nicht geschnittenes Gras wucherte über die Wege. Manche Grabsteine ragten schief aus diesem Urwald, andere verschwanden ganz darin. Aber auf einem kleinen Hügel in der Ferne stand ein hohes Gebäude, das einem Säulentempel ähnelte. Engelsfiguren mit gesenkten Köpfen aus Stein bewachten den Eingang.
Er lief
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