Magie der Schatten: Roman (German Edition)
abbringen, aber sie kann ihn vereiteln.«
»Wie sollte sie das tun?«, fragte Nairod.
»Tja, sie könnte zum Beispiel den Drachen töten. Er ist jung und hilflos. Aber damit sie ihn töten kann, musst du sie erst zu ihm führen.«
»Geschwätz.«
»Sag mir nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.«
»Unser Gespräch ist beendet.«
Nairod blickte an ihm vorbei in die weiße Weite. Sax kletterte wieder auf seine Schulter, aber er reagierte nicht darauf.
Minutenlang ließ er sich den schneidenden Wind um das Gesicht wehen. Seine Ohren spürte er schon nicht mehr, und als er seine Nase berührte, tauchte nur eine ferne Erinnerung dessen auf, was man ein Gefühl nennen konnte.
Aber da unten tauchte noch etwas anderes auf.
Erst war es ein winziger schwarzer Punkt in dem weißen Schneegestöber und schien sich nicht zu bewegen. Eine Ruine unter vielen anderen. Nairod blinzelte einige Male. Der Punkt war zu zwei Punkten geworden. Zwei Wesen, die sich von Westen her in die Stadt hineinbewegten.
»Irgendwer kommt dort«, sagte er. »Für eine gemütliche Besichtigung ist das eindeutig die falsche Jahreszeit.«
»Ich sehe es auch«, sagte Sax nahe an seinem Ohr. »Ich warne deine Freundin, während du dir die beiden genauer ansiehst.«
»Hoffentlich haben sie uns noch nicht bemerkt.« Lenia und das Lager befanden sich im Süden. Das verschaffte ihnen etwas Zeit.
Geduckt schlich Nairod zurück zur Treppe. Er beeilte sich, die Stufen hinabzukommen. Einmal rutschte er um ein Haar in eine der Spalten zwischen den Stufen. Gerade noch rechtzeitig bekam er den Rand eines in die Wand gebrochenen Lochs zu fassen. Ein Stück der Stufe, auf die er sich rettete, brach weg, so dass ein gewaltiger steinerner Dorn entstand.
»Sobald sie unsere Fußspuren finden, wissen sie Bescheid«, sagte er und beschleunigte seine Schritte.
Unten angekommen, spähte er aus der Türöffnung: zwei Gestalten, eine dünne und eine große, breite. Sie kamen so zielstrebig in seine Richtung, dass es kaum noch ein Zufall sein konnte.
»Na los, wie besprochen.« Nairod setzte Sax am Rand eines Lochs in der Turmwand ab, von dem aus eine Kette von Trümmern sich nach Süden zog. Selbst der kleine Erl konnte auf diesem Weg rasch die lange Distanz hinter sich bringen.
Nairod tastete in seiner Tasche nach Lenias Kristall. Die Kühle der Oberfläche ließ ihn ruhiger atmen, obwohl ihn schon genug Kälte umgab. Er trat hinaus in den Schnee, den Wanderern entgegen.
Schnell verwandelten sich die vom Gestöber verschleierten Gestalten in erkennbare Umrisse. Der eine war nicht mehr klein und dünn, der andere immer noch groß, aber mit dünnen Gliedern und gewaltigen Pranken. Der Große blieb stehen und schlug einen anderen Weg ein. Nach Norden. Er verschwand hinter einer Hauswand. Der Kleinere hielt weiter auf Nairod zu. Unmöglich, dass er ihn noch nicht erblickt hatte.
Nairod blieb vor einer Ruine stehen, deren Außenwände noch bis Hüfthöhe reichten. Der andere näherte sich. Er trug einen schweren, bronzefarbenen Mantel aus Pelz, und eine dunkle Mütze verbarg sein Gesicht beinahe vollständig. Schließlich blieb er vor der Wand auf der anderen Seite des Hauses stehen. Keine drei Meter trennten sie jetzt mehr. Der Mann streckte eine Hand in Nairods Richtung. »Ich habe dich nicht vergessen, und auch nicht das, was du getan hast.« Er ließ die Hand wieder in der Tasche des Mantels verschwinden.
»Seltsam.« Nairod strich sich die lang gewachsenen Haare aus dem Gesicht. »Ich kenne Euch nicht. Und das hier wäre auch ein ziemlich ungemütlicher Ort für ein Wiedersehen, meint Ihr nicht?«
»Der Ort spielt keine Rolle, Dieb.« Der Mann blickte auf. Ein faseriger, grauer Bart hing ihm vom Kinn, und seine weit aufgerissenen Augen glänzten fiebrig. »Gib mir, was mein ist, und deinen Teil gibst du mir auch.«
Unwillkürlich trat Nairod einen Schritt zurück. Sein Herz schlug schneller. Ariman. »Ich hatte gehört, Ihr wärt wahnsinnig geworden.«
»Das denken die Menschen schon seit Jahren, seit ich auf das Buch gestoßen bin. Du solltest dieses Gefühl kennen, wenn du den Buchdeckel schon einmal geöffnet hast.«
»Nein. Mein Geist ist stark genug. Ich entschlüssele das Rätsel, und ich werde vollenden, was Ihr nicht geschafft habt.«
Ariman schüttelte den Kopf. »Arroganz. Du wirst scheitern. Deshalb solltest du mir das Buch geben. Jetzt. Dann behältst du vielleicht dein Leben.«
Nairod ging leicht in die Knie, um sich besser bewegen zu
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