Magie der Sehnsucht - Roman
ihn zu verschonen, ahnst du gar nicht. Ich bin nicht der Mann, der unverrichteter Dinge davongeht.« Wütend schlug er mit der Faust auf die Motorhaube. »Verdammt, Grace, solche Männer habe ich früher wie Ungeziefer zertreten …« Abrupt verstummte er, zweitausend Jahre alte Erinnerungen stürmten auf ihn ein. Nun sah er sich wieder als den gefürchteten Feldherrn, der er gewesen war. Der Held von Makedonien. Allein schon der Anblick seiner Standarte hatte genügt, um ganze römische Legionen zur Kapitulation zu zwingen.
Und dann erkannte er, was aus ihm geworden war. Eine leere Hülle, ein Liebessklave, der nur existierte, um seine Herrinnen zu befriedigen …
Zweitausend Jahre lang hatte er ohne Gefühle gelebt, nur die allernötigsten Worte ausgesprochen. In dieser langen Zeit war er einfach nur dahinvegetiert. Ein Geschöpf, das je nach Bedarf funktionierte.
Bis Grace ihn in einen Menschen zurückverwandelt hatte.
Erschüttert beobachtete sie, wie sein Gesicht eine Vielfalt von Emotionen widerspiegelte. Zorn, Verwirrung, Grauen – und schließlich tiefen Schmerz. Sie trat zu ihm. Aber er ließ sich nicht berühren.
»Verstehst du das nicht?«, flüsterte er heiser. »Wer ich bin, weiß ich nicht mehr. In Makedonien wusste ich es. Und das ist aus mir geworden.« Er hielt den Arm hoch, auf den Priapos die Schriftzeichen gebrannt hatte. »Erst du
hast das geändert.« Verzweifelt starrte er sie an. »Warum musstest du das tun, Grace? Warum konntest du mich nicht in meiner Scheinwelt weiterleben lassen? Ich hatte gelernt, nichts mehr zu empfinden. Wenn man mich rief, tat ich, was von mir verlangt wurde. Dann verschwand ich wieder. Und jetzt …« Er schaute sich um, als wäre er in einem Albtraum gefangen, aus dem es kein Entrinnen gab.
»Julian …«, begann sie und wollte ihm ihre Hand reichen.
Doch er schüttelte den Kopf und wich ihr aus. »Nein!« Mit allen Fingern strich er durch sein Haar. »Wohin ich gehöre, weiß ich nicht mehr. Das verstehst du nicht.«
»Dann erkläre es mir.«
»Wie kann ich erklären, wie es ist, zwischen zwei Welten zu existieren? Und in beiden verachtet zu werden? Ich bin weder ein Mensch noch ein Gott, sondern eine grässliche Mischform. Wie ich aufwuchs, weißt du nicht. Meine Mutter schob mich ins Haus meines Vaters ab, und mein Vater überließ mich seiner Frau, die mich allen verfügbaren Leuten aufhalste, nur um mich loszuwerden. In den letzten zwanzig Jahrhunderten wurde ich unbarmherzig ausgenutzt. Ein Leben lang suchte ich ein Heim – jemanden, der mich schätzte – nicht mein Gesicht oder meinen Körper.« Wieder einmal verdüsterte ein namenloses Leid seine Augen.
»Ich will dich, Julian.«
»Unsinn. Wie solltest du …«
»Wieso nicht? Mein Gott, noch nie habe ich mir so inbrünstig gewünscht, mein Leben mit jemandem zu teilen.«
»Weil du mich begehrst. Nur körperliche Lust …«
Erbost starrte sie ihn an. Wie konnte er es wagen, ihre
Gefühle herabzuwürdigen? Sie liebte ihn. Von ganzem Herzen. »Erzähl mir bloß nicht, was ich empfinde! Ich bin kein Kind mehr!«
Unfähig, ihr zu glauben, schüttelte er den Kopf. Seit seiner Geburt hatte ihn niemand geliebt. Das war der Anfang seines Fluchs gewesen.
Und jetzt wollte Grace ihm einreden, sie würde ihn lieben? Das wäre ein Wunder. Ein himmlisches Glück. Doch die Schicksalsgöttinnen hatten ihm ein anderes Los zugeteilt.
Du wirst leiden wie kein Mann jemals zuvor.
Und Graces Worte? Nur ein weiterer Trick der Götter, ein grausamer Hohn, um ihn zu bestrafen.
So müde war er. Erschöpft von all den Kämpfen. Und er sehnte sich nur noch nach einer Linderung seiner Qualen, nach Erlösung von den beängstigenden Trieben, die ihn erfassten, wann immer er Grace anschaute. Als sie die Ablehnung in seinem Blick las, stöhnte sie leise. Wer durfte ihm seine Reaktion verübeln? So oft war er verletzt worden.
Aber sie würde ihm beweisen, wie viel er ihr bedeutete. Wenn ihr das nicht gelang, würde sie ihn verlieren – und sterben.
15
WÄHREND DES RESTLICHEN Wochenendes ging er auf Distanz. Erfolglos versuchte Grace die unsichtbare Barriere zu durchbrechen, die er rings um seine Seele errichtet hatte.
Er erlaubte ihr nicht einmal, ihm etwas vorzulesen.
Entmutigt ging sie am Montag zur Arbeit. Diese Mühe hätte sie sich sparen können, denn sie konnte an nichts anderes denken als an das Leid in Julians himmelblauen Augen, das sie nicht mit ihm teilen durfte.
»Dr. Alexander?«
Sie schaute auf und
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