Magier des dunklen Pfades 2 - Der Alte Bund (German Edition)
Er, der nur hinter aufgeschlagenen Büchern gelebt hatte, stand unerschüttert vor Hunderten Menschen, die seinem Tod entgegenfieberten. Nie würde er einen Platz in den großen Werken der Geschichte bekommen. Blieb ihm also nur, das letzte Kapitel im Buch seines eigenen Lebens würdevoll abzuschließen.
»Seine Seele!«, fuhr Genthate fort, »ist schwärzer als die schwärzeste Nacht Durlums, trachtet er doch danach, den Alten Bund in all seiner Grausamkeit wiederauferstehen zu lassen! Iros sei gedankt konnten ich und mein treuer Hauptmann Kostar seinem Treiben Einhalt gebieten!«
Kostar erklomm nun die Stufen und stellte sich neben Genthate, sein Gesicht immer noch entstellt.
Beifall, während Arlo weiterhin Obstsorten aller Art abbekam. Sein Gewand sah inzwischen aus wie eine Tischdecke nach einem dreitägigen Zechgelage am Kaiserhof.
Erschütternd fand Arlo nicht die Tatsache des Bewerfens an sich, sondern dass die Erwachsenen ihren Kindern das Obst in die Hände drückten, hasserfüllt auf Arlo deuteten, ihre Sprösslinge anfeuerten und sie lobten, wenn sie einen Treffer landeten.
Hass gebiert nur neuen Hass , dachte Arlo traurig. Sie bringen ihren Kindern bei zu hassen …
Kurz sah er noch einmal zu Aluna, die ihm tapfer zunickte, dann richtete er seinen Blick über die Köpfe der Menschen hinweg in den Abendhimmel, dessen glutrotes Leuchten den Horizont übergoss.
Angst, Panik, Schmerz, zuletzt die wilde Erheiterung über Genthates Sturz – nun nichts mehr; nur eine dumpfe Leere, ein Klangkörper, dessen letzter Ton ein Todeskeuchen wäre. Genthate indes redete weiter, vom Grauen des Alten Bundes und Iros’ Glanz, von ewiger Verdammnis und der Erlösung der menschlichen Seele im immerstrahlendem Reich Gottes. Die Worte drifteten in bedeutungsloser Leichtigkeit an ihm vorbei.
Irgendwann riss der Wortstrom ab.
Nun war es wohl so weit.
Arlo sah nach rechts, erwartete einen genüsslichen Blick des Hohepriesters, erwartete den Henker mit seinem schwarzen Gugel, wie er gemessenen Schrittes die Stufen erklomm unter dem atemlosen Schweigen der Zuschauer.
Etwas anderes jedoch hatte Genthate verstummen lassen: ein Vogel.
Er war sehr klein und besaß ein schillerndes Federkleid, das in der Abendsonne glänzte. Seine Flügel schwirrten so schnell, dass das Auge die einzelnen Schläge nicht auseinanderhalten konnte. Direkt vor Genthates Gesicht flatterte er herum, auf und ab, nach links und rechts, sodass dieser entnervt nach ihm schlug. Doch der Vogel war zu schnell. Die Hand fuhr immer ins Leere.
»Vermaledeites Federvieh«, knurrte Genthate und benutzte nun auch die andere Hand. Der Vogel wirkte – anders konnte Arlo das helle Getschilpe nicht deuten – amüsiert, als bereite es ihm einen Riesenspaß, den Hohepriester in einen Tobsuchtsanfall zu treiben.
Plötzlich verharrte der Vogel schwebend vor Genthate.
Der Hohepriester spannte sich, sein gutes Auge starr auf den gefiederten Störenfried gerichtet.
Seine Hände schnellten nach vorne.
Flirrende Flügel. Ein hohes Trällern.
Der Vogel sauste davon, viel zu flink für den plumpen Tötungsversuch.
Genthate allerdings, nun aus dem Gleichgewicht, prallte gegen den Altar. Die Holzkonstruktion knackte bedenklich. Damit er nicht noch einmal zu Boden fiel, stützte sich der Hohepriester mit seinem ganzen Gewicht auf der Marmorplatte ab.
Ein weiteres trockenes Knirschen, ein erster heller Sprung in einer der Holzlatten.
Der Altar brach zusammen, die Marmorplatte knallte auf das Podest, riss ein Loch in die Planken und zerbarst dabei.
Der Vogel drehte ein paar verzückte Kreise über Genthate, ehe er sich in die Lüfte schwang und in Richtung der untergehenden Sonne davonflog.
Arlo stutzte. Hier wurde gerade der Albtraum eines jeden Priesters wahr. Ein schlimmeres Zeichen als einen in sich zusammenfallenden Altar gab es nicht: Das würde das gesamte Fest überschatten.
Genthate zitterte am ganzen Leib, und sein Gesicht war kreidebleich. Er fuhr herum, fixierte Arlo, Mordlust in seinem Auge. »Das ist dein Werk, du dreckiger Frevler!« Er schöpfte tief Atem. »Der Scharfrichter soll kommen und das Urteil unverzüglich vollstrecken!« Dann holte er ein mit Goldfäden verbrämtes Tuch hervor und tupfte damit sein Gesicht ab.
Nicht lange, und ein ganz in Schwarz gekleideter Mann mit der erwarteten Henkerskapuze über dem Kopf betrat das Podest unter dem aufgeregten Tuscheln der Menschen. Er war groß, breite Schultern, die Unterarme, die aus dem
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