Magier von Moskau
Sie schon mal da sind«, sagte sie unfreundlich, damit er sich nicht zu viel einbildete. »Sie müssen noch eine Prüfung bestehen.«
Sie betraten den Salon, als Gdlewski eben mit seinem Vortrag fertig war und Rosenkranz sich für seinen Auftritt bereithielt.
Die Zwillinge auseinanderzuhalten war gar nicht schwer. Güldenstern sprach ein reines Russisch (er hatte ein russisches Gymnasium besucht) und war eine Frohnatur. Rosenkranz hingegen schrieb ständig etwas in sein dickes Notizbuch und seufzte oft. Colombina sah häufig seinen leidvollen baltischen Blick auf sich gerichtet und antwortete mit unbeugsamer Miene, wiewohl die stumme Anbetung ihr angenehm war. Schade nur, daß die Verse des Deutschen so schauderhaft waren.
Auch jetzt nahm er eine feierliche Stellung ein: Füße in der dritten Position, die Finger der rechten Hand zum Fächer gespreizt, die Augen auf Colombina gerichtet.
Der gnadenlose Doge unterbrach ihn schon nach der ersten Strophe: »Danke, Rosenkranz. ›Seufzen und eine reine |97| Träne weinen‹, das geht nicht, aber heute war es schon besser. Meine Herrschaften! Dort steht der Kandidat für den Platz von Abaddon«, stellte er den Neuling vor, der an der Tür stehengeblieben war und den Salon und die Anwesenden neugierig musterte.
Alle drehten sich nach ihm um; er machte eine leichte Verbeugung.
»Bei uns ist es üblich, eine Art poetisches Examen abzulegen«, sagte der Doge zu ihm. »Ich brauche nur ein paar Zeilen aus einem Gedicht des Bewerbers zu hören, um sofort zu wissen, ob er zu uns paßt oder nicht. Sie schreiben Gedichte, die für unser Literaturverständnis ungewöhnlich sind, ohne Reim und Rhythmik, darum dürfte es gerecht sein, wenn ich Sie bitte, etwas über ein von mir vorgegebenes Thema zu improvisieren.«
»Bitte«, antwortete Gendsi ohne jede Verlegenheit. »Welches Thema schlagen Sie vor?«
Colombina vermerkte, daß Prospero ihn mit »Sie« anredete, was an sich schon ungewöhnlich war. Offenbar wollte es ihm nicht über die Zunge, den beeindruckenden Herrn zu duzen.
Der Präside schwieg lange. Alle warteten mit angehaltenem Atem, denn sie wußten: Gleich wird er den selbstsicheren Neuling mit einem Paradox oder einer Überraschung verblüffen.
So kam es auch.
Er warf die Spitzenmanschette zurück (heute war er als spanischer Grande gekleidet, und diese Aufmachung paßte bestens zu seinem Bart und den langen Haaren), entnahm der Schale einen rotbäckigen Apfel und biß mit seinen kräftigen Zähnen krachend hinein. Er kaute, schluckte hinunter, warf Gendsi einen Blick zu.
|98| »Da haben Sie Ihr Thema.«
Alle wechselten Blicke. Was für ein Thema?
Petja flüsterte Colombina zu: »Das ist Absicht. Gleich fällt er durch, du wirst sehen.«
»Angebissener Apfel oder überhaupt Apfel?« präzisierte der Prüfling.
»Das entscheiden Sie.«
Prospero lächelte zufrieden und setzte sich auf seinen Thron.
Achselzuckend, als ginge es um eine Bagatelle, sprach Gendsi:
Der Apfel ist herrlich.
Nicht am Zweige und nicht im Magen,
Sondern im Augenblick des Fallens.
Alle warteten, ob noch eine Fortsetzung käme. Sie kam nicht. Da schüttelte Cyrano den Kopf, Kriton kicherte ziemlich laut, aber Gdlewski nickte beifällig, und die Löwin der Ekstase schrie sogar: »Bravo!«
Colombina, die schon drauf und dran gewesen war, spöttisch das Gesicht zu verziehen, wurde nachdenklich. Wenn zwei Koryphäen an dem wunderlichen Werk des Prinzen Gendsi etwas fanden, war es nicht ganz hoffnungslos. Das entscheidende Wort allerdings würde der Doge sagen.
Dieser trat zu Gendsi und drückte ihm kräftig die Hand.
»Ich habe mich nicht in Ihnen getäuscht. Genauso ist es: Am wichtigsten ist nicht das langweilige Dasein und nicht das Verwesen nach dem Tode, sondern die Katharsis des Übergangs von einem Zustand in den anderen. Genauso ist es! Und wie knapp, kein überflüssiges Wort! Wahrhaftig, bei den Japanern kann man etwas lernen!«
Colombina warf einen Blick auf Petja. Der zuckte die Achseln |99| – fand offensichtlich, wie sie auch, in dem Aphorismus nichts Besonderes.
Der neue Anwärter ging im Salon auf und ab und sagte verwundert: »Ich war überzeugt, daß das Interview mit dem Oberpriester des Selbstmörderklubs im ›Kurier‹ ein plumper Bluff ist. Aber die Einrichtung des Zimmers ist genau beschrieben, und auch der ehrwürdige Doge scheint nach der Natur gezeichnet. Ist es die Möglichkeit? Sie haben sich mit einem Korrespondenten getroffen, Herr Prospero? Aber
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