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Magier von Moskau

Magier von Moskau

Titel: Magier von Moskau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
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Hand, sah sie eindringlich an und sagte leise: »Bitte, liebes F-Fräulein, schauen Sie mir in die Augen. So. Gut. Sie können mir vertrauen.«
    Gott allein weiß, was Ophelia in seinen Augen sah, aber sie wurde auf einmal ruhig, ihre Stirn glättete sich, und ihr Lächeln war nicht mehr verwirrt, sondern versöhnt.
    »Ja.« Sie nickte. »Ich vertraue Ihnen. Wir können es versuchen.«
    Colombina erstickte fast vor Entrüstung. Eine spiritistische Sitzung ohne Prospero? Undenkbar! Für wen hielt sich dieser geschniegelte Herr? Ein Parvenü war er, ein Usurpator! Das war ja schlimmerer Verrat am Dogen als das unvorsichtige Geschwätz mit dem Zeitungsreporter!
    Aber die anderen schienen ihren Unmut nicht zu teilen, sie waren eher neugierig geworden. Selbst Caliban, der ergebene Adlatus des Dogen, fragte den Prinzen Gendsi fast schmeichelnd: »Sind Sie sicher, daß es bei Ihnen klappt? Können Sie die Geister rufen? Und werden sie Ihnen den nächsten Auserwählten nennen?«
    Gendsi zuckte die Achseln.
    »Natürlich klappt es. Und wie sie kommen werden. Und was sie uns mitzuteilen haben, werden wir bald erfahren.«
    Er setzte sich seelenruhig auf den Thron des Präsiden; alle beeilten sich, ihre Plätze einzunehmen, und spreizten die Finger.
    »Und du?« sagte Petja zu der entrüsteten Colombina. »Setz dich hin. Sonst fehlt ein Glied in der Kette.«
    Da setzte sie sich. Es war schwer, ganz allein der Mehrheit |103| zu widerstehen. Und neugierig war sie natürlich auch – sollte es tatsächlich klappen?
    Gendsi klatschte dreimal in die Hände, und sofort wurde es sehr still.
    »Sehen Sie nur mich an, Mademoiselle«, gebot er Ophelia. »Sie müssen vier Sinnesorgane abschalten und nur das Gehör behalten. Horchen Sie h-hinein in die Stille. Und Sie, meine Herrschaften, lenken Sie das Medium nicht ab mit störenden Geräuschen.«
    Colombina sah ihn an und staunte nur so. Wie schnell dieser Mensch, kaum daß er im Klub aufgetaucht war, sich alle anderen unterwarf! Niemand machte auch nur den Versuch, seine Führerschaft in Frage zu stellen, dabei hatte er gar nichts Besonderes getan, nur wenige Worte gesagt. Und ihr fiel ein, was ihr Geschichtslehrer am Gymnasium, Iwan Ferdinandowitsch Ségur, in den alle Schülerinnen der siebenten Klasse bis über beide Ohren verliebt waren, über die Rolle der starken Persönlichkeit in der Gesellschaft geäußert hatte.
    Es gebe zwei Typen natürlicher Führer: Der erste sei höchst energisch und aktiv, könne jeden überschreien, unterdrücken, aus dem Konzept bringen und auch gegen dessen Willen mitreißen; der zweite sei wortkarg und auf den ersten Blick schwerfällig, aber er bezwinge die Menschen durch die Ausstrahlung ruhiger, selbstsicherer Kraft. Die Macht von Führern dieses Typs, so sagte der kluge Lehrer und funkelte dabei die Schülerinnen mit seinen Kneifergläsern an, beruhe auf einem natürlichen psychologischen Defekt – sie kennen keine Todesangst. Ja, sie scheinen sogar mit ihrem ganzen Verhalten das Nichtsein zu versuchen, herauszufordern: Komm, hole mich bald. Die Brust der Gymnasiastin Mironowa hatte sich unter der weißen Schürze |104| gehoben, ihre Wangen hatten geglüht, so sehr waren die Worte des Lehrers ihr zu Herzen gegangen.
    Jetzt, dank Ségur, begriff sie, warum ein Mann wie Prinz Gendsi sich den »Liebhabern des Todes« anzuschließen wünschte. Er mußte wohl eine herausragende, unerschrockene, zu außergewöhnlichen Taten fähige Persönlichkeit sein.
    »Sind Sie bereit?« fragte er Ophelia.
    Sie war schon in Trance: die Wimpern gesenkt, das Gesicht leer, die Lippen bewegten sich leicht.
    »Ja, ich bin bereit«, antwortete sie, noch mit ihrer eigenen Stimme.
    »Wie hieß der letzte Auserwählte, der sich a-aufgehängt hat?« fragte Gendsi leise den neben ihm sitzenden Güldenstern.
    »Abaddon.«
    Gendsi nickte.
    »Rufen Sie den Geist von Abaddon«, gebot er.
    Eine Minute lang geschah nichts. Dann erhob sich über dem Tisch das Colombina bereits bekannte kalte Lüftchen, von dem ihr jedesmal der Atem stockte. Die Kerzenlichter flackerten, Ophelia ließ den Kopf nach hinten kippen, als hätte eine unsichtbare Kraft ihr einen Stoß versetzt.
    »Ich bin hier«, krächzte sie gepreßt, und doch klang es wie die Stimme des Selbstmörders. »Das Sprechen macht mir Mühe. Die Kehle ist zusammengepreßt.«
    »Wir werden Sie nicht lange quälen.« Seltsam, im Gespräch mit dem Geist stotterte Gendsi überhaupt nicht. »Abaddon, wo sind

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