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Magier von Moskau

Magier von Moskau

Titel: Magier von Moskau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
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Sie?«
    »Dazwischen.«
    »Wo zwischen?«
    »Zwischen etwas und nichts.«
    |105| »Fragen Sie ihn, was er jetzt empfindet«, flüsterte die Löwin aufgeregt.
    »Sagen Sie, Abaddon, was fühlen Sie jetzt?«
    »Angst … Ich habe Angst … Große Angst …«
    Ophelia, die Ärmste, zitterte tatsächlich am ganzen Leib, ihre Zähne schlugen aufeinander, ihre rosigen Lippen färbten sich violett.
    »Warum sind Sie aus dem Leben gegangen?«
    »Mir wurde das Zeichen gesandt.«
    Alle hielten den Atem an.
    »Welches?«
    Der Geist schwieg lange. Ophelia öffnete und schloß lautlos den Mund, ihre Stirn zog sich in Falten, als ob sie angestrengt auf etwas horchte, ihre Nasenlöcher weiteten sich. Colombina erschrak und fürchtete, das Medium könnte wieder sinnloses Zeug daherreden wie bei den letzten Seancen.
    »Geheul …«, krächzte Ophelia. »Grausiges Geheul … Die Stimme ruft mich … Ein Tier … Der Tod hat ein Tier nach mir geschickt … Unerträglich! Eine Zeile, die letzte Zeile muß ich noch schreiben, dann ist Schluß, Schluß, Schluß! Wo bin ich hier? Wo bin ich hier? Wo bin ich hier?«
    Alles Weitere war unverständlich. Ophelia schüttelte es förmlich. Plötzlich schlug sie die Augen auf. In ihnen war eine so unaussprechliche Angst, daß einige der Anwesenden aufschrien.
    »Kommen Sie zurück! Kommen Sie sofort zurück!« befahl Gendsi scharf. »Gehen Sie in Frieden, Abaddon. Und Sie, Ophelia, kommen zu mir. Hierher, hierher … Ganz ruhig.«
    Sie erwachte allmählich. Fröstelnd zuckte sie zusammen und schluchzte. Die Löwin umarmte sie, küßte sie auf den Scheitel, gurrte etwas Beruhigendes.
    |106| Colombina saß da, niedergeschmettert von einer das Blut vereisenden Entdeckung. Das Zeichen! Das Zeichen des Tiers! Der Tod hatte Abaddon, seinem Auserwählten, ein Tier geschickt! »Im Haus ein Tier!«, »Es grunzt das vollgefreßne Tier!« Das war keine Metapher, keine rhetorische Figur!
    In diesem Moment drehte sie sich um und sah: In der Tür, die vom Salon in die Diele führte, stand Prospero und blickte die Teilnehmer der Seance an. Auf seinem Gesicht war ein sonderbar verstörter Ausdruck gefroren. Er tat ihr unsagbar leid! Unter den zwölf Aposteln Christi hatte sich ein einziger Judas gefunden, und hier hatten sie alle ihren Lehrer verraten, im Stich gelassen.
    Sie sprang hektisch auf, trat zu Prospero, doch er würdigte sie keines Blicks – er sah Ophelia an und schüttelte langsam, wie ungläubig den Kopf.
    Die Anwärter, halblaut plaudernd, rüsteten zum Aufbruch.
    Colombina wollte warten, bis sie alle gegangen wären. Dann würde sie mit dem Dogen allein sein und ihm zeigen, daß es auf der Welt noch wirkliche Treue und Liebe gab. Heute würde sie für ihn nicht die fügsame Puppe sein, sondern eine wirkliche Geliebte. Ihre Beziehung würde sich grundlegend ändern! Nie wieder sollte er sich einsam und verraten fühlen!
    Und da sprach Prospero die ersehnten Worte, nur nicht zu Colombina.
    Er winkte Ophelia mit dem Finger und sagte leise: »Bleib. Ich mache mir Sorgen um dich.«
    Dann nahm er sie bei der Hand und zog sie ins Innere des Hauses. Sie trippelte gehorsam hinter ihm her – klein, blaß, entkräftet vom Umgang mit den Geistern. Aber ihr Gesichtchen |107| leuchtete vor freudiger Verwunderung. Nun, sie war zwar nicht ganz richtig im Oberstübchen, aber auch eine Frau! Colombina stampfte mit dem Fuß auf – sie konnte dieses idiotische Lächeln nicht mehr sehen –, stürzte Hals über Kopf hinaus und blieb ratlos vor dem Haus stehen, wußte nicht, was tun und wohin gehen.
    Da kam Gendsi heraus. Er sah das verwirrte Fräulein aufmerksam an und verbeugte sich.
    »Es ist spät. Erlauben Sie mir, Sie zu b-begleiten, Mademoiselle Colombina?«
    »Ich fürchte mich nicht, nachts allein durch die Stadt zu gehen«, antwortete sie abgerissen und konnte nicht weitersprechen vor aufsteigendem Schluchzen.
    »Trotzdem begleite ich Sie«, sagte Gendsi entschlossen.
    Er nahm ihren Arm und führte sie weg von dem verruchten Haus. Sie hatte nicht die Kraft, zu streiten oder abzulehnen.
    »Seltsam«, sagte er nachdenklich, als bemerkte er nicht den Zustand seiner Begleiterin. »Ich habe den Mediumismus immer für Scharlatanerie oder bestenfalls für Selbstbetrug gehalten. Aber Mademoiselle Ophelia ist keine Lügnerin oder Hysterikerin. Sie ist ein interessantes Wesen. Und was sie mitgeteilt hat, ist auch höchst interessant.«
    »Wirklich?« Colombina warf dem japanischen Prinzen einen Seitenblick zu und

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