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Magier von Moskau

Magier von Moskau

Titel: Magier von Moskau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
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erfüllen? Sie werden mir gewiß beipflichten, Wissarion Wissarionowitsch, daß Herr Blagowolski nicht verhaftet werden muß. Soll er in Ruhe sein edles Werk fortsetzen. Die »Liebhaber« sind jetzt in guten Händen, sonst würden sie ja, Gott behüte, einzeln herumirren und Hand an sich legen, ja, schlimmer, sie |140| könnten auf die Idee kommen, eigene Selbstmörderklubs zu gründen.
    Was die »böse Macht« angeht, so ist das Hysterie – mit Herrn Blagowolski ist die Einbildungskraft durchgegangen, und seine Nerven haben nachgegeben.
    Ich werde natürlich den »Krankensaal Nr. 6« im Auge behalten. Wenn Prospero dort der Chefarzt ist, bin ich (ha-ha) der
Chef aufseher
.
    Nehmen Sie die Versicherung meiner ergebensten Hochachtung entgegen.
    ZZ
    In der Nacht vom 4. zum 5. September 1900

|141| DRITTES KAPITEL
    1.
Aus Zeitungen
    ES BLEIBT KEIN ANDRER WEG?
    Lawr Shemailo
    Zum Gedenken an Loreley Rubinstein (1860 –1900)
     
    Neiget das Haupt, ihr alle, denen die vaterländische Literatur teuer ist. Ich bin sicher, euch erfüllt nicht nur Gram, sondern auch ein Gefühl, das noch düsterer ist: verständnislose Verzweiflung. Der helle Stern, der das Firmament der russischen Poesie während der letzten Jahre erleuchtete, er ist nicht einfach erloschen – er ist auf tragische Weise herabgefallen und hat in unsere Herzen eine blutige Furche gerissen.
    Selbstmord hat stets eine schreckliche Wirkung auf die Zurückbleibenden. Der Gehende weist Gottes Welt zurück und damit uns alle, die wir auf ihr leben. Wir sind für ihn nicht mehr notwendig noch interessant. Noch hundertmal ungeheuerlicher ist es, wenn ein Literat so handelt, dessen Verbindung mit dem geistigen und gesellschaftlichen Leben, so sollte man denken, besonders fest sein muß.
    Armes Rußland! Seine Dantes und Shakespeares sind gleichsam mit einem verhängnisvollen Stempel gezeichnet: Wer von ihnen nicht durch die Kugel fällt wie Puschkin, Lermontow und Marlinski, der vollstreckt das böse Urteil des Schicksals an sich selbst.
    Ein weiterer klangvoller Name ist hinzugekommen zum Martyrologium der Selbstmörder in der russischen Literatur. Eben erst haben |142| wir ein bitteres Jubiläum begangen – vor einem Vierteljahrhundert starben der Graf A. K. Tolstoi und der funkelnde Wassili Kurotschkin. Sie hatten sich vergiftet. Der edle Garschin stürzte sich in den Treppenschacht, der verzweifelte Nikolai Uspenski schnitt sich mit einem stumpfen Messer die Kehle durch. Jeder dieser Verluste ist eine nicht verheilende Wunde am Körper unserer Literatur.
    Und jetzt eine Frau, eine Dichterin, genannt die »russische Sappho«.
    Ich habe sie gekannt. Ich gehörte zu denen, die fest an ihr Talent glaubten. Es war erst in reiferem Alter erblüht, versprach aber noch sehr viel.
    Der Anlaß, der Loreley Rubinstein bewog, zur Feder zu greifen, als die erste Jugend schon vorüber war, ist bekannt: der Schwindsuchttod ihres heißgeliebten Mannes M. N. Rubinstein, den viele als edelmütigen und hochanständigen Menschen in Erinnerung haben. Loreley, kinderlos und des einzigen nahen Wesens beraubt, fand Rettung in der Poesie. Sie öffnete uns Lesern ihr glutheißes, leidendes Herz, öffnete es vorbehaltlos und sogar schamlos, denn Aufrichtigkeit und echtes Gefühl kennen keine Scham. Erstmalig in der russischen Literatur erklangen aus dem Mund einer Frau solch kühne Sinnlichkeit und Leidenschaft – natürliche Regungen, die sich nach dem Tode des geliebten Gatten nur noch in Gedichten äußern konnten.
    Provinzfräuleins und Gymnasiastinnen schrieben diese sinnenfrohen Zeilen heimlich in ihre gehüteten Poesiealben. Die Ärmsten wurden beschimpft, manchmal auch bestraft für ihr Interesse an der »unsittlichen« Poesie, aus der sie nichts Gutes lernen könnten. Aber was sind schon Gedichte! Jetzt hat Loreley den romantischen, unerfüllten Jungfrauen ein viel schlimmeres und verlockenderes Beispiel gegeben. Ich fürchte, es werden sich viele finden, die nicht nur die Verse der Dichterin abschreiben, sondern auch ihrem schrecklichen Finale nacheifern wollen.
    Ich weiß zuverlässig, daß sie zu den »Liebhabern des Todes« gehörte. Man kannte sie dort unter dem Namen »Löwin der Ekstase«. In |143| den letzten Wochen hatte ich das Glück, die beeindruckende Frau näher kennenzulernen und ungewollt den feurigen Absturz dieses blendend hellen Sterns mitzuerleben.
    Nein, ich war nicht bei ihr in dem verhängnisvollen Moment, als sie die tödliche Dosis Morphium nahm, aber

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