Magier von Moskau
Am Himmel werden sich Flugapparate fortbewegen. Es wird viele erstaunliche Wunder der Technik geben, die wir uns heute noch gar nicht vorstellen können! Sie sind ja so jung. 1952, eine undenkbar f-ferne Zeit, die Sie jedoch erleben können. Aber weshalb versteifen wir uns auf das Jahr 1952! Bis dahin wird die Medizin solche Fortschritte gemacht haben, daß sich die Lebenserwartung wesentlich erhöht und der Begriff des Alters sich verschiebt. Sie werden sicherlich neunzig Jahre alt und erleben das Jahr 1969! Vielleicht werden Sie auch hundert und erblicken das Jahr 1979. Stellen Sie sich das nur mal vor! Verschlägt es Ihnen da nicht den Atem? Allein aus Neugier lohnt es, alle schweren Prüfungen auszuhalten, die uns aller Voraussicht nach zu Beginn des neuen Jahrhunderts erwarten, die Engen und Stromschnellen der Geschichte zu überwinden, um dann ihre freie Strömung in der Ebene zu genießen.«
Wie schön er sprach! Colombina hörte gegen ihren Willen gebannt zu. Sie dachte: Er hat ja recht, tausendmal recht. Und dann dachte sie noch: Warum hat er die Liebe erwähnt? |236| Einfach als rhetorisches Bild, oder liegt in diesen Worten ein besonderer Sinn, der nur für mich bestimmt ist?
Von nun an gingen ihre Gedanken in eine andere Richtung, weit entfernt von tiefsinnigen Betrachtungen und Mutmaßungen über die Zukunft.
Wie mag das persönliche Leben von Erast Petrowitsch Nameless aussehen? fragte sich Colombina und sah den Beau von der Seite an. Sicherlich ein eingefleischter Junggeselle, einer von denen, die, wie ihre Kinderfrau immer sagte, lieber Hand an sich legen als vor den Traualtar zu treten. Begnügt er sich etwa mit der Gesellschaft seines Japaners? Ach nein, dafür sieht er zu gut aus.
Plötzlich tat es ihr schrecklich leid, daß er ihr nicht früher begegnet war, vor Prospero. Vielleicht wäre dann alles ganz anders gekommen.
Sie trennten sich an der Ecke Staropanski-Gasse. Gendsi nahm den Zylinder ab und küßte dem nachdenklichen Fräulein die Hand. Bevor Colombina den Hausflur betrat, drehte sie sich um. Er stand noch an derselben Stelle, unter der Laterne. Den Zylinder hielt er in der Hand, und der Wind bewegte seine schwarzen Haare.
Während sie die Treppe hinaufstieg, stellte sie sich vor, wie sich alles gefügt hätte, wenn Gendsi ihr früher begegnet wäre.
Vor sich hin trällernd, schloß sie die Tür auf.
Doch fünf Minuten später waren all diese Torheiten vergessen, denn nichts von dem, was Gendsi ihr vorgegaukelt hatte, existierte – weder ein gutes und weises Leben noch die Liebe. Es existierte nur eines – der große Magnet, der sie anzog wie einen winzigen Eisenspan. Wen er einmal erfaßt hatte, den ließ er nicht mehr los.
In diesen fünf Minuten war folgendes geschehen.
|237| Sie hatte sich an den Tisch gesetzt, um wie gewöhnlich die Ereignisse des Tages in ihr Tagebuch zu schreiben, da fiel ihr plötzlich Gorgos niederträchtiger Scherz ein.
Wütend zog sie die Schublade auf, nahm die beiden Botschaften mit den gotischen Schriftzeichen heraus und hielt sie an ein brennendes Streichholz, um die Spuren ihrer schmählichen Vertrauensseligkeit zu vernichten.
Es verging mindestens eine Minute, bis Colombina sicher war: Das Feuer konnte den Botschaften nichts anhaben. Sie hatte mehrere Streichhölzer abgebrannt und sich die Fingerkuppen versengt, doch das Papier wurde nicht einmal schwarz!
Mit zitternden Händen griff sie nach ihrem Täschchen, um das Zigarettenetui herauszunehmen. Sie mußte jetzt eine Papirossa rauchen und ihre Gedanken sammeln. Doch die Tasche entglitt ihren ungehorsamen Fingern, der Inhalt fiel auf den Fußboden, und Colombina erblickte ein kleines weißes Blatt, das genauso aussah wie die beiden anderen. Sie hob es auf, da stand auf deutsch nur ein Wort: Komm .
So war das also.
Ein paar Minuten saß sie reglos und dachte nicht an Den, der ihr die Aufforderung geschickt hatte, sondern an den japanischen Prinzen. Ich danke Ihnen, lieber Gendsi, verabschiedete sie sich in Gedanken von ihm. Sie sind klug und schön. Sie wollten mein Bestes. Ich hätte mich ganz bestimmt in Sie verliebt, alles lief darauf hinaus, aber es gibt einen Kavalier, der noch imposanter ist als Sie. Alles ist entschieden. Es wird Zeit für mich.
Und damit war es genug.
Sie brauchte nur noch das Schlußkapitel in ihr Tagebuch zu schreiben. Die Überschrift ergab sich von selbst.
|238|
Zärtlich, so zärtlich verläßt Colombina
die STADT DER TRÄUME
»Zärtlich, weil
Weitere Kostenlose Bücher