Magierdämmerung 01. Für die Krone - Perplies, B: Magierdämmerung 01 Krone
– Männer und Frauen, Kinder und Erwachsene – in der Wahrsicht zeigen und unterscheiden? Schlug sich ihr Gemütszustand in ihrer Fadenaura nieder? Gab es besondere Verbindungen zwischen Verliebten oder zwischen einer Mutter und ihrem Kind? Ließen sich Krankheiten erkennen?
Vorsichtig erhob sich Kendra und versuchte, sich in dem Chaos um sie herum zu orientieren. Der Zug selbst brachte als unbelebtes Objekt natürlich weniger Fäden hervor als etwa der Wald, der sie bei ihren früheren Ausflügen in die Welt der Magie umgeben hatte. Aber das immer gleiche Rattern der Räder auf den Schienen und das rhythmische Schnaufen der Lokomotive zwei Wagen vor ihnen erzeugten wellenförmige Echos im Fadenwerk, die für eine furchtbare Unruhe in der Wahrsicht sorgten.
Sie machte zwei unsichere Schritte, prallte unsanft gegen die Tür ihres Abteils und kam zu dem Schluss, dass sie es auf andere Weise versuchen musste, als blindlings durch den Zug zu stolpern. Sie ließ sich neben ihrem Großvater nieder und schob die Tür einen Spaltbreit auf. Anschließend konzentrierte sie sich auf die Fäden, die von ihren Augen ausgingen. Spürfäden hatte ihr Großvater diese Gestalt gewordenen Sinneswahrnehmungen genannt. Beharrlich zog sie diese Fäden in die Länge, ließ sie wachsen und sich durch das Chaos kreuz und quer verlaufender Fadenverbindungen schieben. Dabei legte sie den Kopf schräg und schielte den Gang ihres Waggons hinunter, um ihre Sinne so weit wie auf unmagische Weise möglich auszudehnen.
Im ersten Augenblick merkte sie gar nicht, dass sie Dinge sah, die sie von ihrem Sitz aus eigentlich gar nicht hätte erkennen dürfen, denn das Durcheinander in der Wahrsicht machte es schwer, die dahinter liegende Wirklichkeit wahrzunehmen und einzuordnen. Doch plötzlich wurde ihr bewusst, dass ihr neugieriger Blick in das Nachbarabteil wies und dass sie zwei Personen gewahrte, die eigentlich durch eine Holzwand von ihr getrennt waren.
Kendra schnappte aufgeregt nach Luft und strengte sich an, weitere Einzelheiten zu erkennen. Der Größe nach zu urteilen, handelte es sich bei den Personen eindeutig um Erwachsene, und nachdem sie die beiden eine Weile lang angestarrt hatte, war sie sich ziemlich sicher, dass es sich um Männer handelte, die dunkle Anzüge trugen und Reisetaschen bei sich hatten. Sie hatten sich in ihren Sitzpolstern zurückgelehnt und schienen ein Nickerchen zu machen.
Vor Neugierde fiebernd, schob Kendra sich weiter den Gang hinunter. Mit jeder Minute, die verstrich, fiel es ihr leichter, die Spürfäden zu kontrollieren. So entdeckte sie, dass das übernächste Abteil leer war und dass im dritten eine Frau mit zwei kleinen Kindern saß. Im vierten, das am Ende des Waggons lag, erlebte sie eine Überraschung. Sie musste keine Sekunde lang durch das Fenster des Abteils blicken, um zu erkennen, dass die Gestalt, die dort saß, magisch begabt war. Im Gegensatz zu den anderen Reisenden ging ein Leuchten von ihr aus, das dem in der Aura ihres Großvaters ähnelte, wenngleich es deutlich schwächer ausgeprägt war.
Rasch ging sie in Deckung, denn auch wenn die Menschen, die sie bisher beobachtet hatte, keinerlei Notiz von ihr genommen hatten, so war sie sich alles andere als sicher, ob ein Magieanwender nicht über irgendwelche Abwehrmaßnahmen verfügte, um ungebetene Gäste zu bemerken. Verstohlen um die Ecke lugend, musterte sie den Fremden. Anschließend zog sie sich vollständig zu ihrem Abteil zurück, schloss kurz die Augen und gab die Wahrsicht auf.
Sie wandte sich ihrem Großvater zu und rüttelte ihn an der Schulter. »Wach auf, ich habe etwas entdeckt.«
Giles grunzte etwas Unverständliches, räusperte sich dann, schob den Hut nach oben und blinzelte sie verschlafen an. »Was gibt es denn, Kendra?«
»Es ist ein zweiter Magier im Zug!«, berichtete sie aufgeregt.
Sofort war ihr Großvater hellwach. »Woher weißt du das?«
»Ich habe ihn gesehen. Aus Langeweile übte ich, in die Wahrsicht zu wechseln und Spürfäden zu bilden. Dabei ist er mir aufgefallen.«
Ihr Großvater hob die buschigen Augenbrauen. »Moment mal. Du hast ihn buchstäblich gesehen?«
Kendra nickte. »Er sitzt drei Abteile weiter den Gang hinunter. Ein gedrungener Kerl, der wie ein Schläger aussieht. Er liest einen Schundroman, wenn ich mich nicht irre.«
»Das ist wirklich außergewöhnlich«, stellte Giles fest. »Normalerweise sind Spürfäden nicht direkt mit einer herkömmlichen Sinneswahrnehmung wie Sehen oder
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