Magiermacht (Mithgar 05)
Bienen auf einer Wiese Honig sammeln und dadurch einen Orkan erzeugen, der die halbe Welt vernichtet, oder ein einfaches Niesen die Zerstörung des Mondes nach sich zieht.« Tipperton schaute Phais an, die sich als dunkle Silhouette vor dem lavendelfarbenen Himmel abzeichnete. »Jedes einzelne Glied dieser langen Kette klang in sich logisch. Zum Beispiel bei der Pusteblume und der Lawine. Beau hat erklärt, wie jemand einen Löwenzahn pflückt und die Samen wegbläst, die dann von einem lauen Wind aufgenommen werden, der sich in den Himmel schwingt, wo ein starker Wind diese Samen packt und sie weit über Land und Meer zu einem entfernten Berggipfel trägt. Auf dessen Hängen fassen die Samen Fuß an einem Steilhang, wo Monate später Mäuse die Keimlinge ausgraben und als Winterfutter sammeln. Dabei lösen sie den Fels, der rollt davon und löst eine Lawine aus, welche schließlich die Stadt am Fuß des Berges mitsamt all ihrer Bewohner unter sich begräbt. Und wer kann wissen, was wiederum aus dieser Katastrophe folgt? Einer Katastrophe, die sich niemals ereignet hätte, wenn nicht jemand Monate zuvor Löwenzahnsamen auf einer weit entfernten Wiese weggepustet hätte.
Deshalb frage ich Euch, Phais, sind alle Dinge miteinander verbunden? Wenn ja, wie soll man denn überhaupt noch etwas tun, weil man ja immer fürchten muss, eine Katastrophe auszulösen?«
Tipperton schwieg. Phais stand da und betrachtete die Sterne im Osten, wo der Himmel dunkel war. Dann sah sie zum Westen, wo das Abendrot noch schimmerte. Schließlich holte sie tief Luft. »Ihr habt gefragt, ob alles miteinander verwoben ist, und das kann ich nur bestätigen.« Tipperton stöhnte, aber Phais ließ ihm keine Zeit zu antworten. »Wenn auch nicht direkt, sondern durch eine Kette von Folgen, die mehr oder weniger lang ist. Aber selbst wenn es keine Kette gäbe, wäre alles miteinander verwoben. Jedenfalls glaube ich das. Denn entspringen nicht alle Dinge einem gemeinsamen Quell, dem Großen Schöpfer selbst?
Doch obwohl alles zusammenhängt, müssen bestimmte Taten nicht unbedingt zu einer Katastrophe führen. Es kann sowohl Gutes wie Schlechtes entstehen. Und manchmal geschehen auch Dinge, die gar keine Konsequenzen zu haben scheinen.
Lasst mich Euch ein Beispiel nennen: Wäre der Samen in Eurer Geschichte kein Löwenzahn gewesen, sondern Flachs, und wäre er nicht von einem Wind, sondern einem Vogel in die Lüfte getragen worden, der ihn weit weg auf fruchtbaren Boden hätte fallen lassen, wo viel später Menschen das Feld entdeckten, dann hätten sie schönes Leinen schöpfen und Leinsamenöl gewinnen können, und ihr Leben hätte sich verbessert.
Versteht Ihr jetzt, dass die gleichen Ereignisse sowohl Fluch als auch Segen bringen können?«
»Ja, das verstehe ich«, antwortete Tipperton.
»Dann stellt Euch Folgendes vor: Einige Ereignisse treten zufällig ein, während andere mit Vorsatz herbeigeführt werden. Wir können die zufälligen Ergebnisse nicht kontrollieren, aber wir können eigene Entscheidungen treffen. Diese Entscheidungen bitte ich Euch zu bedenken, denn sie ähneln den Steinen, die man in einen Teich wirft. Sie werfen Wellen, die sich in einem immer größer werdenden Kreis ausbreiten, und in allem, was sie berühren, einen Widerhall auslösen.
Doch je weiter die Wellen reisen, desto schwächer wird der Effekt, den sie auslösen.«
»Schon«, räumte Tipperton ein, »aber etwas anderes stimmt auch: Je größer der Stein ist, desto größer sind die Wellen, ganz gleich, wie groß die Entfernung ist.«
Phais nickte. »Da habt Ihr recht. Jede Entscheidung gleicht einem Stein, der ins Wasser geworfen wird, manche sind groß, andere klein, diese nah, jene fern, und die daraus entstehenden Wellen überschneiden sich in komplizierten Mustern. Hier werden sie stärker, dort schwächer. Alle werden schwächer, je weiter sie sich ausdehnen. Manchmal jedoch kann selbst die schwächste Welle sich mit anderen Wellen verbinden und ein Ereignis auslösen, das am Ende großen Schaden anrichtet, wie das Beispiel mit dem Löwenzahnsamen verdeutlicht. Dann wiederum können sich große Wellen vereinen, und obwohl sie ganz nah sind, dennoch vollkommen wirkungslos bleiben, weil sie sich gegenseitig aufheben. Tyrannen, die sich gegenseitig töten, zum Beispiel, sodass niemand überlebt, der die Unterworfenen unterdrücken könnte. Doch meistens können wir nicht vorhersagen, wie bewusste Entscheidungen am Ende aufeinander wirken, oder welche
Weitere Kostenlose Bücher