Magische Insel
die Spinde packen. Auf diesem Schiff stielt niemand etwas.« Sie blickte mich scharf an. »Bitte, lass deinen Stab bis zum Einlaufen in der Koje.«
Immer der Stab! Ich steckte ihn neben die Matratze und quetschte den Tornister in einen Spind. Sammel verstaute den seinen im anderen.
Myrten schüttelte den Kopf, als er sich vor seinen Spind kniete.
»Dürfen wir zurück auf Deck gehen?« fragte ich.
»Selbstverständlich. Aber behindert die Besatzung nicht bei der Arbeit.«
Ich stieg den Niedergang wieder nach oben.
Jetzt spürte ich das Vibrieren der Dampfkessel, als wäre das Schiff zum Leben erwacht. Auf der Brücke stand ein Mann am Ruder. Der Mann mit silbernem Haar und wettergegerbtem Gesicht war wohl der Kapitän, da er ein gelbes Hemd trug.
»Leinen los!«
»Leinen an Bord!«
»Kessel Volldampf. Schaufelräder in Bereitschaft!«
Langsam drehten sich die Schaufelräder, als die Eidolon von der Pier ablegte.
Ich ging beinahe auf Zehenspitzen zur Reling, um die Abfahrt zu beobachten.
Tamra stand immer noch an derselben Stelle an der Reling, wo ich sie verlassen hatte.
Die niedrigstehende Sonne beschien von Westen her die schwarzen Schieferdächer, die schwarzen Straßen und schwarzen Mauern. Nylan wirkte tatsächlich wie eine düstere Festung, die sich über dem Meer erhob. Nichts reflektierte die rötliche Abendsonne außer den Wellen. In gewisser Weise erinnerte mich der Anblick an ein Bild, das ich in einem Geschichtsbuch meines Vaters gesehen hatte: die Weiße Stadt Frven unter den Chaos-Meistern. Doch Frven war ganz weiß gewesen und untergegangen. Das Schwarze Nylan lebte fort und schützte mit seiner Ordnung eisern Recluce.
Eine Schliere in der Luft fiel mir ins Auge. Eines der langen schwarzen Schiffe der Bruderschaft, das keinen Mast hatte, folgte der Eidolon. Sein eines Turmgeschütz richtete sich auf das nordlanische Schiff, als es hinter dem Heck der Eidolon in Stellung ging.
»Dir fällt das so leicht«, sagte Tamra so leise, dass ich sie über die drei Ellen hinweg kaum verstehen konnte.
»Was fällt mir leicht?«
»Das Unsichtbare zu sehen.«
Ich zuckte mit den Schultern. »Ich habe nie darüber nachgedacht, ob es leicht oder schwierig ist. Ich sehe es einfach. Aber es ist wirklich ein seltsames Schiff.«
»Es ist nicht gerecht, weißt du.« Die Stimme der Rothaarigen klang so ausdruckslos, dass es mir kalt über den Rücken lief. »Es ist ihnen gleichgültig, wie sehr man sich bemüht. Es ist ihnen gleichgültig, wie viel man lernt. Es ist ihnen alles gleichgültig.«
Ich schob mich etwas näher. »Du meinst die Bruderschaft?«
»Sie lieben nicht. Du bist der Sohn eines der hohen Tempelmeister. Du schluckst ihre Ansichten nicht, und sie werfen dich hinaus, obwohl du jünger als alle anderen bist.«
Hoher Tempelmeister – mein Vater?
Das Schiff der Bruderschaft wurde schneller und legte sich steuerbord neben die Eidolon. Der Eindruck von Ordnung und Macht schlug mir über die hundert Ellen Abstand überwältigend entgegen.
»Du weißt nicht einmal Bescheid. Ist das gerecht?«
»Nein. Aber sie richten sich nicht nach dem, was gerecht ist, Tamra. Mir ist inzwischen klargeworden, dass für sie nur das eine Rolle spielt, was sich ihren Regeln fügt. Wenn wir ihnen in die Quere kommen … müssen wir weg.«
Sie wandte sich mir zu. Ihr Gesicht war kreidebleich. »Und du teilst diese Meinung?« Jedes Wort fiel wie ein Hammerschlag auf einen Amboss.
Ich wollte zurückweichen, doch das Schiff schlingerte, und ich packte die Reling. Die Eidolon hatte das offene Meer erreicht, wo die Wellen höher waren.
Die Schaufelräder drehten sich schneller und schneller. Die weiße Rauchwolke aus dem Schornstein wurde immer dicker.
»… Focksegel …« Seeleute kletterten auf die Masten und setzten Segel.
»Teilst du ihre Meinung?« fragte Tamra nochmals. Ihr Gesicht war dicht vor mir.
»Ich weiß nicht.«
»Oh … Verflixt … ooooh!«
»Kann ich dir helfen?«
»Ja. Lass … mich … in … Ruhe.«
Dann entleerte sich ihr Mageninhalt über die Reling. Ich sprang zurück, da ich in Luv stand und nicht viele Sachen zum Wechseln dabeihatte. Tamra war jetzt so damit beschäftigt, die Fische zu füttern, dass sie keine weiteren philosophischen Antworten von mir verlangte.
Ich ging zum Bug und sah, wie das schwarze Schiff nach Norden fuhr – mit einer fast unglaublichen Geschwindigkeit. Keine Schaufelräder, keine Segel – nur der Schaum des Kielwassers und eine dünne schwarze
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