Magische Insel
nochmals Tee aus der großen Teekanne nach und gab einen dicken Klumpen Honig hinein. Der Honig befand sich in einer eisengrauen Kanne, die weder zur Teekanne noch zu den Bechern passte.
»Ihr beiden seid schon ein Paar!« Isolde sagte das ganz sachlich. »Tamra glaubt, dass Erfolg durch Leistung kommt, und du, Lerris, glaubst, dass alles erklärt ist, wenn man nur die Antwort kennt. Einer von euch hasst Privilegien, aber sehnt sich verzweifelt danach. Der andere hat sie, aber lehnt sie gedankenlos ab.«
Tamra und ich blickten uns an.
»Euch beiden steht eine Riesenüberraschung bevor.« Isolde trank einen kräftigen Schluck Tee und häufte sich Trockenobst – hauptsächlich Äpfel – auf den Teller. Dann griff sie zum viereckigen Zwieback. Sie verzehrte alles abwechselnd.
Ich trank noch etwas Tee, der trotz des Honigs bitter schmeckte.
Tamra knabberte an einem Zwieback und nahm einen kleinen Schluck Tee, um die Krümel hinunterzuspülen. Ohne ein buntes Tuch wirkte sie in ihrer dunkelgrauen Kleidung wie eine schlaffe Porzellanpuppe.
Als das Schweigen mir zu lange dauerte, stellte ich den Becher in eine Mulde und stand auf. Ich schaute Tamra und Isolde an. Beide würdigten mich keines Blickes und sagten auch nichts. Isolde aß langsam und beharrlich weiter. Tamra starrte auf die braune Tischplatte neben ihrem Becher.
Nachdem keine der beiden auch nur ein Wort sagte, begab ich mich aufs Deck.
Draußen hatte der Wind aufgefrischt und zauste meine kurzen Haare. Ich ging zum Bug und blieb dort stehen. Die Sonne wärmte mir den Rücken, während ich zuschaute, wie der Wind die Schaumkronen der dunkelblauen Wogen davonblies. Die Eidolon war kein schnittiges Schiff, sondern glich mehr Isolde. Tüchtig und sachlich fuhr sie dahin.
Diese Solidität war hilfreich, denn meine Gedanken waren alles andere als solide. Ich – ein potentieller Ordnungs-Meister? Mit Privilegien geboren? Überzeugt, dass Antworten alles lösten? Wie konnte ich überhaupt eine Entscheidung darüber treffen, was ich tun wollte, ohne etwas zu wissen? Talryn, Kerwin, meine Eltern, sogar Isolde behaupteten, alles sei offensichtlich, dass ich mich blind stellte und dass ich wählen müsse. Was wählen? Was bedeutete das? Ewige Langeweile, falls ich Ordnung wählte? Den frühen Tod, falls ich mich für Chaos entschied? Also, diese Alternativen erschienen mir alles andere als großartig.
Wusch … Die Eidolon war in eine große Woge hineingefahren. Die Gischt spritzte beinahe bis zur Reling herauf, an der ich lehnte. Das Schiff kam mir ruhiger vor.
Natürlich! Die Schaufelräder standen still, die Maschinen waren abgeschaltet. Solange der Wind hielt, konnte der Kapitän Kohlen sparen.
Ich fragte mich, ob meine kürzliche Erkenntnis stimmte, dass ich immer erst später sah, was allen offensichtlich war.
»Darf ich dir Gesellschaft leisten?«
Ich zuckte zusammen. Tamra stellte sich neben mich. Sie war nicht mehr so blass wie beim Frühstück.
»Gern.«
»Du hast besorgt dreingeschaut …« Ihre Stimme klang weicher als sonst.
Wollte ich mich tatsächlich mit ihr unterhalten? Von Anfang an war sie ein ausgesprochenes Miststück gewesen. Ich seufzte. Was würde es mich kosten? Wir hatten nichts zu tun, und sie war gewiss nicht langweilig.
»Ja … ich habe mir so meine Gedanken gemacht.«
»Du hast nicht gewusst, dass dein Vater ein hoher Tempelmeister ist?«
»Nein.«
»Ich … es tut mir leid.«
»Du sagst das so, als tue es dir überhaupt nicht leid.«
»Müssen wir uns streiten?« fragte sie.
»Nein. Aber musst du alles in Zweifel ziehen, was ich sage oder tue?«
»Es ist schwer … wenn ich dich sehe … du hattest alles … und …«
»Und?«
Sie antwortete nicht, sondern blickte nur neben mir aufs Meer hinaus.
Schweigen und das Rauschen der Wellen waren mir lieber als eine schwierige Unterhaltung. Daher schaute ich auch aufs Wasser.
»Lerris?«
»Ja?«
»Es tut mir leid.«
»Was tut dir leid?«
»Weil … warum machst du es mir so schwer?« Ihre Stimme klang gepresst.
Ich brauchte eine Weile, um die Worte zu unterdrücken, die mir auf der Zunge lagen, dass sie ein eingebildetes Miststück sei, das die ganze Welt beherrschen wolle. Aber war diese Bemerkung wirklich angebracht?
Die Gischt sprühte beinahe bis aufs Deck.
Wir beobachteten beide stumm die Wellen.
Schließlich fing ich wieder an. »Erinnerst du dich, als wir uns kennen gelernt haben … Als erstes hast du mir gesagt, welch ein kläglicher Anblick ich sei
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