Magische Zeiten - Ploetzlich verzaubert
ungleichmäßig und es fiel mir schwer, überhaupt noch Luft zu bekommen. Ich weiß nicht, wie viele Mädchen vor ihrem ersten Kuss mit akuter Atemnot in der Notaufnahme landen, aber ich war mir sicher, dass ich eine davon werden würde. Tom strich mir mit der freien Hand übers Haar, dann über die Wange, sein Gesicht kam immer näher, es verschwamm vor meinen Augen und deswegen machte ich sie fest zu. Ich dachte nicht an die Anleitungen und an überhaupt nichts mehr. Einen Moment lang war ich nicht Luna Mai, sondern ein neues, anderes Wesen in einer Welt, in der es keine Zeit gibt und keine hässlichen Pyjamas und magentafarbenen Negligés. Es war so… weich und warm und zart… so schön! Der Kuss dauerte eine Ewigkeit und war gleichzeitig viel zu kurz.
Dann war ich wieder ich. Von einer Sekunde auf die andere. Tom hielt noch immer den Kerzenständer in der rechten Hand. Ich holte seinen Kaugummi aus meinem Mund. »Willst du den noch?«, fragte ich.
»Kannst du behalten«, sagte er lässig, aber ich hatte das Gefühl, dass er rot wurde. Unter der Treppe war es zu dunkel, um das wirklich beurteilen zu können, und die Kerzen in seiner Hand waren nicht angezündet. »Okay, dann bis bald mal«, murmelte er und ging. AAH! Ich klebte den Kaugummi unters Treppengeländer.
Seitdem hatte ich Tom nicht mehr zu sehen bekommen. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. In Wahrheit war ich nämlich mindestens drei Mal mehr in ihn verliebt, als Suse ahnte, und wünschte mir nichts so sehr, wie das Projekt MTK voranzutreiben.
Eine halbe Stunde später war Tom immer noch nicht da. Zum Trost packte ich unter lauten Oohs und Aahs meine Geschenke aus:
1 Wandkaugummiautomat
1 Lederjacke, von der ich meinen Eltern zwei Wochen lang täglich vorgeschwärmt hatte
Die sechste Staffel von »Blood Diary«
1 Musiksoftware mit Realtime Effects, Auto-Mix und Loop-Funktion
1 grüner Schal mit Glitzerstreifen
1 von meinen Freundinnen genial selbst gebastelter Foto-Roman
Die Grillen zirpten laut. Suse sah wie Nofretete aus, sie hatte ihr Haar irgendwie hochgetürmt, die Augen so dunkel geschminkt, dass es für drei Mädels gereicht hätte, und eine lange weiße Tunika angezogen. Und jetzt stand sie mit Heiko unterm Birnbaum und er redete auf sie ein. Wahrscheinlich ging es um irgendwelche idiotischen Computerspiele, darüber sprachen die Jungs aus unserer Klasse pausenlos. Suses Gesichtsausdruck jedenfalls war etwas gelangweilt. Obwohl sie ständig in irgendeinen Jungen verknallt ist, hat sie noch nie einen geküsst und dabei ist sie einen ganzen Monat älter als ich. Als ich ihr von meinem ersten Kuss erzählte, wollte sie alles wissen – wie fühlt sich so eine Zunge an, wie schmeckt sie und macht einen ein Kuss richtig glücklich?
Ich blieb noch eine Weile stehen, um mitzukriegen, ob sie selbst endlich dran war, doch als es nach zehn Minuten immer noch nicht danach aussah, beschloss ich, einen Erdnuss-Shake zu trinken. Niemand kann so leckere Erdnuss-Shakes machen wie mein Vater. Die sind so gut, als hätte er das jahrelang auf der Uni studiert und nicht Medizin. Den halben Nachmittag hatte er damit verbracht, Milch und Erdnussbutter und Schokoladeneis und Kakao zu mixen.
»Müssen wir Suse retten oder so was?«, fragte Gloria, die unbemerkt neben mir aufgetaucht war. Gloria kommt aus Angola und ist jeanssüchtig. Sie hat mindestens dreißig Paar Jeans zu Hause und trägt nie, nie, nie was anderes. Ich mag Gloria, weil sie einen immer zum Lachen bringen kann, egal, ob man glücklich oder traurig ist.
»Retten? Sie hat ihn doch selbst eingeladen.« Ich grinste und warf noch einen Blick unter den Birnbaum. Suse scharrte mit den Füßen und sah überallhin, nur nicht in Heikos Gesicht. Ich hatte nicht den Eindruck, als ob sie sich groß für das interessieren würde, was er ihr gerade wortreich erzählte. Aber warum hatte sie ihn dann überhaupt eingeladen?
»Ich ziehe meine Frage zurück.« Gloria kicherte. »Sag mal, kennst du schon den neuesten Witz?«
Ich schüttelte den Kopf. Ich habe mir noch nie im Leben einen Witz merken können, aber Gloria kommt jeden Tag mit einem neuen an. Keine Ahnung, wie sie das hinkriegt. »Treffen sich zwei Fische, sagt der eine: ›Hi!‹ Sagt der andere: ›Wo?‹«
Gloria begann, hysterisch zu lachen, knickte ein und landete rückwärts auf dem Rasen. Das ist das Beste an ihren Witzen. Sie lacht sich selbst kringelig darüber und ihr Lachen klingt wie eine Autohupe. Ich prustete los,
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