Magnolia Steel - Hexenflüstern (German Edition)
den Klabauter. Oswald stand am weit geöffneten Fenster.
»Da hinten, in der Bucht von Skullisland«, sagte er, ohne sich umzudrehen, und reichte Linette ein Fernrohr. Sie trat neben ihn ans Fenster und schaute hindurch. Zuerst verstand sie nicht, was sie dort sah, doch dann wurde sie blass.
In einer Bucht vor einer kleinen Felseninsel lag ein riesiges Schiff vor Anker. Seine Konturen flimmerten wie heiße Luft über dem Asphalt. Alles an ihm war schwarz. Der Rumpf, die Masten, die eingerollten Segel. Nur die Flagge, die selbstbewusst im Wind flatterte, war weiß. Sie war weiß und zeigte ein schwarzes Haupt. Das Haupt der Gorgonen!
Linette war entsetzt. Da ankerten sie also. So offen und nah hatte sie die Schlangenhäuptigen nicht erwartet. Die Gorgonen schienen ihre Entdeckung nicht zu fürchten.
Wortlos ließ Linette das Fernrohr sinken und gab es Oswald zurück. Eine Weile sah die Hexe schweigend über das Meer, dann räusperte sie sich und fragte: »Wissen Sie, wer dort vor Anker liegt?«
Oswald zog einmal kräftig an seiner Pfeife und blies den Rauch ringförmig in die Luft. Dann nickte er.
»Gorgonen. Sie haben den Beryll entdeckt. Er ist bei uns nicht mehr sicher.«
Da hatte er wahrhaftig recht. Linette verkniff sich die Bemerkung, dass die Wahl des Verstecks ausgerechnet in einem Museum möglicherweise nicht günstig gewesen war.
»Ähm, Jeppe, würdest du uns wohl einen Moment allein lassen?«
Jeppe kam widerwillig zwischen zwei dicken Kissen hervor, hinter denen er sich versteckt hatte.
»Es ist nicht nötig, dass du mich vor die Tür setzt«, erklärte er beleidigt. »Ich habe dir doch gesagt, dass ich weiß, um was es geht!« Trotzig sah er die Hexe an.
»Ist das wahr, kennt er die ganze Geschichte?«, fragte Linette den Klabauter. Der nickte und Linette seufzte. »Wer weiß außer euch beiden noch davon?«
Oswald sah sie mit seinen klugen, hellen Augen an. »Jeder!«, sagte er unumwunden.
Die Hexe traute ihren Ohren nicht. Das konnte nur ein Albtraum sein.
»Die Sache mit dem Beryll war noch nie ein Geheimnis«, erklärte Oswald. »Generationen von Klabautern haben ihn bestaunt und bewacht. Er lag im Museum von Salem, als ein Stück unserer Geschichte. Denn schließlich waren wir es, die ihn über den Ozean in die Neue Welt gebracht haben. Wir haben ihn nicht aus den Augen gelassen. Und wie gut er bewacht wurde, hat sich in diesen Tagen ja bewiesen. Wir haben die Gefahr rechtzeitig bemerkt und unsere Vorkehrungen getroffen.«
»Wo ist der Beryll jetzt?«, wollte Linette wissen. Insgeheim hoffte sie, dass Oswald ihn hier auf dem Schiff aufbewahrte und sie ihn nur noch an sich nehmen und fortbringen musste.
Der Klabauter sah sie spöttisch an. »Sie glauben doch nicht im Ernst, wir sind so dumm und setzen uns dieser Gefahr aus? Sie haben doch gesehen, dass wir Frauen und Kinder an Bord haben.« Er zog noch einmal an seiner Pfeife und Linette war froh über das weit geöffnete Fenster. Dieses Kraut bereitete ihr Kopfschmerzen.
»Wir haben ihn an jemanden weitergegeben, der unser vollstes Vertrauen hat. Er wird sich früher oder später mit Ihnen in Verbindung setzen. Seien Sie einfach jederzeit bereit und machen Sie sich keine unnötigen Gedanken. Auch wir Klabauter sind magische Geschöpfe und haben kein Interesse daran, dass der Beryll in die falschen Hände gerät.« Mit diesen Worten ging Oswald zur Tür und hielt sie auf.
Das Zeichen für Linette zu gehen. Ihr blieb also nichts anderes übrig, als auf diesen geheimnisvollen »Jemand« zu warten und auf der Hut vor den Gorgonen zu sein. Die Sache schmeckte ihr überhaupt nicht. Sie nickte Oswald kurz zu und verließ festen Schrittes die Kajüte.
»Linette! Linette!« Sofort war Jeppe neben ihr.
»Ich halte die Ohren offen, großes Koboldehrenwort«, versprach der junge Kobold.
»Ich weiß!«, antwortete die Hexe müde.
»Hier entlang!« Jeppe sprang ihr voran die Treppe hinauf und Linette folgte ihm dankbar. Die Abendsonne schickte ihre Strahlen über das Schiffsdeck und tauchte alles in ein goldenes Licht. Linette straffte ihren Rücken und trat an die Reling. Lange sah sie hinüber nach Skullisland. Sogar mit dem bloßen Auge konnte sie die Umrisse des Schiffs der Gorgonen erkennen. Man konnte nur hoffen, dass dieser geheimnisvolle »Jemand« es an List und Mut mit ihnen aufnehmen konnte.
Plötzlich zupfte es an ihrem Ärmel.
»Wir sind bereit, Sie zurückzurudern, Ma’am«, sagte der Klabauter, der Mumme hieß. Und das war
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