Magnolia Steel - Städing, S: Magnolia Steel
»Was ist schon schwer? Verglichen mit dem Versuch, einen Ball in einem runden Raum in die Ecke zu legen, ist es leicht. Reine Übungssache.«
Sie schlurfte in die Küche und kehrte zehn Minuten später mit zwei Bechern Tee zurück. Einen Becher reichte sie Magnolia, mit dem anderen machte sie es sich in ihrem Ohrensessel bequem. Über den Becherrand hinweg sah sie ihre Nichte an.
»Ist dir in deinem bisherigen Leben schon einmal etwas Merkwürdiges passiert?«, fragte sie. »Zum Beispiel: Du denkst an jemanden, den du lange nicht gesehen hast, und triffst ihn am nächsten Tag in der Stadt oder …«
»Genau! Einmal dachte ich an eine Freundin in der Schweiz, prompt klingelte das Telefon und sie war dran.«
Tante Linette lachte: »Siehst du, genau das meine ich. Du bist sensibel für solche Dinge. Dein Unterbewusstsein sendet bereits an dein bewusstes Denken.«
»Aber das Schärfste waren ja wohl die Raben«, fuhr Magnolia fort, »hier in Rauschwald auf dem Parkplatz. Sie saßen im Baum und haben so seltsam zu mir herabgeschaut. Ich habe ihre Blicke direkt in meinem Kopf gespürt, so als wollten sie mich zu etwas zwingen.« Plötzlich fröstelte Magnolia.
»Diese Aasfresser!«, polterte Linette. »Er hat sie geschickt, um dich einzuschüchtern. Aber von den Raben droht dir keine Gefahr. Mit denen wirst du auch ohne Ausbildung fertig. Du bist stärker als sie, also keine Angst!«
»Ich habe keine Angst. Es war nur so ein mieses Gefühl, ich …«
»Deine Mutter hat übrigens angerufen.« Abrupt wechselte Linette das Thema.
»Hier?«, fragte Magnolia verblüfft.
»Nein, sie rief in der Apotheke an, ich war heute Vormittag noch einmal dort. Es geht ihr gut.«
»Wollte sie mich denn gar nicht sprechen?«
Linette schüttelte den Kopf. »Aber sie lässt dich herzlich grüßen.«
Magnolia winkte müde ab. »Erzähl mir lieber von meiner Großmutter«, bat sie, »ich habe lange Zeit gar nicht gewusst, dass Oma Tilda Mamas Stiefmutter ist.«
Linette nickte. »Dein Großvater hat ein zweites Mal geheiratet. Matilda. Matilda ist ein feiner Kerl und sie hat es sicher verdient, von dir Oma genannt zu werden, aber deine leibliche Großmutter ist meine Schwester Dorette. Sie hätte dir sicher gefallen. Manchmal erinnerst du mich an sie, mit deinem Trotz und deinem aufbrausenden Ärger. Es sind die Augen. Sie sprühten Funken, genau wie deine, wenn sie wütend war. Dann musste man sich vor ihr in Acht nehmen, denn sie war eine Banshee.«
»Sie war eine Banshee?«, fragte Magnolia mit aufgerissenen Augen. Denn plötzlich fiel ihr ein, was eine Banshee war. Eine Todesfee. Wem sie erschien, der musste sterben. Ein einziger Blick von ihr brachte den Tod. Zum Glück lebten solche Geschöpfe meistens in Irland.
»Du hast recht«, sagte Tante Linette, so als hätte Magnolia diese Gedanken laut ausgesprochen.
»Weiß der Himmel, wer von unseren Vorfahren irisches Blut hatte —, aber du kannst dir vorstellen, dass eine Banshee nirgends wirklich gern gesehen ist. Zwar gibt es einen Unterschied zwischen dem Gesehenwerden und dem Erscheinen, aber die Leute hatten inihrer Nähe stets ein mulmiges Gefühl. Obwohl es Dorette nicht interessierte, wie sich die Menschen in ihrer Nähe fühlten, lebte sie mit ihrem Mann und ihrer kleinen Tochter, deine Mutter war damals noch ein Baby, sehr zurückgezogen. Sie liebte ihren Kräutergarten und manchmal fragte ich mich, ob sie nicht eine bessere Kräuterhexe als eine Banshee wäre. Stell dir vor, es gelang ihr sogar die ›Königin der Nacht‹ in ihrem Garten zu kultivieren. An den großen Hexenfesten nahm sie natürlich teil, sie tanzte für ihr Leben gern. Deinem Großvater erzählte sie dann, sie gehe zu einer Abendveranstaltung der Avon-Beratung.« Linette lächelte, dann wurde sie wieder ernst.
»Es geschah an Beltane, der Nacht zum ersten Mai. Wir waren auf dem Heimweg vom Hexentanzplatz und besonders gut gelaunt, bis wir einen Trupp Schattenkrieger bemerkten, der uns aus dem Dickicht des Waldes heraus beobachtete. Wir rochen sie auf zwanzig Meter Entfernung, doch anstatt wie sonst einen großen Bogen zu machen, ging Dorette diesmal direkt auf sie zu. Ich konnte nicht hören, was sie sagte. Aber keine drei Sekunden später röchelten die Schattenkrieger und gingen in die Knie, sie krümmten sich am Boden und zerflossen schließlich vor meinen Augen zu schwarzem, klebrigem Teer. Ich war entsetzt. Nicht aus Mitleid, sondern aus Angst vor Graf Raptus. Jetzt gab es kein Zurück mehr.
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