Magnus Jonson 01 - Fluch
Nichts kommen –, und als wir morgens aufwachten, schneite es immer noch. Wir bauten das Zelt ab und machten uns auf den Heimweg. Das Schneetreiben wurde immer dichter, wir konnten kaum noch sehen. Dein Vater ging einige Meter vor mir. Wir waren beide müde, ich schaute nur auf den Boden vor mir, auf den jeweils nächsten Schritt, da hörte ich plötzlich einen Schrei. Ich blickte hoch, doch Ásgrím war verschwunden. Mir wurde klar, dass wir uns an einem Felsrand befandenund er abgerutscht war. Ich sah ihn rund zwanzig Meter unter mir, ganz verdreht lag er da. Ich musste ziemlich weit am Felsrand entlanggehen, bis ich einen Weg nach unten fand, und trotzdem war es noch sehr schwer wegen des Schnees. Ich rutschte selbst aus und fiel hin, doch wurde der Sturz durch den Schnee gedämpft.«
Der Pastor hielt inne und sah Ingileif mit seinen tiefliegenden dunklen Augen an. »Als ich deinen Vater fand, lebte er noch, war aber bewusstlos. Er hatte sich den Kopf gestoßen. Ich zog meinen Mantel aus, um ihn zu wärmen, und eilte dann los, um Hilfe zu holen. Na ja, ›eilen‹ ist kaum das richtige Wort bei so einem Schneesturm. Ich hätte es langsamer angehen lassen sollen; ich verirrte mich. Erst als das Schneetreiben nachließ, erblickte ich in der Ferne einen Bauernhof. Inzwischen zitterte ich am ganzen Leib – ich hatte ja meinen Mantel bei deinem Vater gelassen.«
»War das der Hof Álfabrekka?«
»Ja. Dort wohnten zwei Bauern, Vater und Sohn, die mich beide zurück zu Ásgrím begleiteten, während die Bauersfrau die Bergrettung benachrichtigte. Als wir endlich bei deinem Vater waren, fanden wir ihn tot vor.« Der Pastor schüttelte den Kopf. »Als die Bergrettung schließlich eintraf, meinten die, er sei schon längere Zeit tot, aber ich mache mir bis heute Vorwürfe, dass ich mich in dem Schneesturm verirrt habe.«
»Hat die Polizei Hinweise gefunden, dass der Tod des Doktors kein Unfall war?«, fragte Magnus.
»Natürlich nicht!«, widersprach der Pastor mit donnernder Stimme. »Das kannst du in der Akte nachlesen. Daran bestand nie irgendein Zweifel.« Böse funkelte der Pastor Magnus an, bedrängte ihn fast körperlich, seine Behauptung zu glauben. Magnus zuckte nicht mit der Wimper. Er würde sich seine eigene Meinung bilden.
Langsam leuchtete ihm ein, was Ingileif gemeint hatte, als sie den Pastor als unheimlich beschrieben hatte. Der Mann war von einer Aura der Macht umgeben, die von seinem Gegenüber verlangte, sich seinem Willen zu beugen.
Magnus hatte nicht vor, dieser Macht nachzugeben.
»Hast du nach dem Tod meines Vaters noch weiter nach dem Ring gesucht?«, fragte Ingileif.
Der Pastor schaute sie an und entspannte sich ein wenig. »Nein. Ich hörte damit auf. Ich gebe zu, dass es Spaß machte, zusammen mit deinem Vater an der Sache herumzurätseln, aber als er tot war, verlor ich jedes Interesse an dem Ring. Und an der Saga.«
Magnus sah sich im Zimmer um. An der Wand hingen drei unterschiedliche Drucke eines Vulkanausbruchs. Hekla. »Und wieso hängen die dann da?«
»Ich erforsche schon länger die Rolle des Teufels in der isländischen Kirchengeschichte«, sagte Hákon. »Hekla war in ganz Europa als Tor zur Hölle bekannt. Wie du dir vorstellen kannst, fasziniert mich das.«
Er hielt inne. »Ich muss zugeben, dass Gauks Saga unter diesem Gesichtspunkt sehr interessant ist. Soweit mir bekannt ist, handelt es sich um die früheste Erwähnung von Hekla in dieser Rolle. Es ist auch die erste festgehaltene Besteigung des Vulkans. Bisher waren wir der Ansicht, dass vor 1750 niemand wagte, Hekla zu besteigen. Aber Ísildur und Gauk bestiegen ihn natürlich vor dem großen Ausbruch von 1104, deshalb war er damals vielleicht nicht so furchteinflößend.«
»Vor ein paar Tagen hast du mit meiner Kollegin über einen Besuch von Professor Agnar Haraldsson gesprochen«, warf Magnus ein.
»Das stimmt.«
»Und was hast du ihr erzählt, worüber er mit dir sprechen wollte?«
Der Pastor lächelte, und die Haut um seine Augen legte sich in tausend kleine Falten. »Ach, ich war nicht ganz ehrlich zu deiner Kollegin. Ich nehme das Vertrauen meiner Gemeindemitglieder sehr ernst.« Nachdrücklich schaute er Ingileif an.
»Worüber hat Agnar also tatsächlich mit dir gesprochen?« »Über Gauks Saga natürlich. Und den Ring.« Der Pastor zupfte an seinem Bart. »Er erzählte mir, Ingileif hätte ihn gebeten, dieSaga für die Familie zum Verkauf anzubieten.« Stirnrunzelnd sah er Ingileif an. »Ich muss
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