Magnus Jonson 01 - Fluch
Vasen und Kerzenhalter aus Lava, Schmuck, Stühle, Lampen, sie malten abstrakte Landschaften. Dazu kamen Ingileifs eigene Lederwaren aus Fischhaut. Nordidea kaufte ihnen alles ab.
Die Bestellmengen aus Kopenhagen waren so schnell in die Höhe geschossen, dass Ingileif mehr Designer auftreiben musste, ohne dabei ihren Anspruch auf höchste Qualität aufzugeben. Das Problem war, dass Nordidea nur schleppend zahlte. Als die Bankenkrise in Dänemark und Deutschland zuschlug, wurde die Zahlungsmoral noch schlechter. Irgendwann versiegte der Geldfluss.
Die Galerie musste ein großes Darlehen von der Bank zurückzahlen. Auf Anraten ihres Bankberaters hatten die Geschäftspartnerinnen den Kredit in Euro aufgenommen, da die Zinsen niedriger waren. Doch als die Krone an Wert verlor, war der Umfang des Darlehens derart gestiegen, dass die Frauen keine Möglichkeit mehr hatten, ihren ursprünglichen Rückzahlungsplan zu erfüllen.
Wichtiger für Ingileif war, dass die Galerie den Künstlerinnen noch immer Millionen Kronen schuldete. Es waren Schulden, die sie unbedingt zurückzahlen wollte. Die Geschäftsbeziehung zu Nordidea war ganz allein Ingileifs Werk gewesen; es war ihr Fehler, und sie würde dafür zahlen. Ihre Kolleginnen hatten keine Ahnung, wie ernst das Problem war, und Ingileif wollte auch nicht, dass sie es erfuhren. Sie hatte bereits das Erbe von ihrer Mutter durchgebracht, doch es hatte nicht gereicht. Diese Künstlerinnen waren nicht nur ihre Freundinnen: Reykjavík war eine kleine Stadt, und jeder in der Kunstszene kannte Ingileif.
Wenn sie all diese Menschen im Stich ließ, würde man das nie vergessen, und sie selbst auch nicht.
Sie griff zum Telefon, um Anders Bohr von der Buchhaltungsfirma in Kopenhagen anzurufen, die Nordideas chaotische Finanzen irgendwie zu retten versuchte. Jeden Tag wurde Ingileif dort vorstellig und bearbeitete Anders mit einer Mischung aus Charme und Drohungen, in der Hoffnung, ihm so lange zuzusetzen, bis er nachgab. Er schien sich gern mit ihr zu unterhalten, war aber noch nicht eingeknickt. Ingileif konnte es nur erneut probieren. Sie hätte sich am liebsten ein Flugticket gekauft, um ihn einmal persönlich in die Mangel zu nehmen.
Hundert Kilometer östlich hielt ein roter Suzuki mit Allradantrieb vor einer kleinen Gebäudegruppe, und ein kräftiger Mann stieg aus. Es waren drei Gebäude: eine große Scheune, ein eindrucksvolles Haus und eine etwas kleinere Kirche. Der Mann war deutlich über eins achtzig groß und hatte dunkles Haar, das an den Schläfen ergraute, einen kräftigen, unter einem Bart versteckten Kiefer und dunkle Augen, die unter buschigen Augenbrauen funkelten. Er wirkte eher wie fünfundvierzig, dabei war er tatsächlich einundsechzig.
Es war der Pastor von Hruni.
Er streckte sich und atmete die kühle, klare Luft ein. Über den blassblauen Himmel jagten weiße Wattebäuschchen. Die Sonne stand tief, in diesen Breitengraden stieg sie nie sehr hoch, aber sie verbreitete ein klares Licht, das die Konturen der Hügel und Berge rund um Hruni wie einen Schattenriss umzeichnete.
Weiter im Norden wurde das Sonnenlicht strahlend weiß von der glatten Fläche des Gletschers reflektiert, der die Lücken zwischen den Bergen füllte. Flache Hügel, Felsen und Wiesen, die in dieser Phase des Frühlings immer noch braun waren, umgaben den kleinen Ort. Fluðir lag zwar direkt auf der anderen Seite des Kamms im Westen, hätte aber genauso gut zwanzig Kilometer entfernt sein können. Oder fünfzig.
Der Pastor drehte sich um und warf einen Blick auf seine geliebte Kirche. Es war ein kleines Gebäude mit weiß gestrichenerWellblechverkleidung und einem roten Wellblechdach, das auf dem mit Flechtwerkzaun umgebenen Grundstück unter einem Felsvorsprung stand. Die Kirche war rund achtzig Jahre alt, doch die Grabsteine waren grau und verwittert. Wie überall in Island waren die Bauwerke neu, aber die Orte alt.
Der Pastor kam gerade von einem seiner Gemeindemitglieder zurück, einer achtzigjährigen Bauersfrau, die unheilbar an Krebs litt. Trotz seiner furchteinflößenden Erscheinung war der Pastor in seiner Gemeinde beliebt. Einige seiner Kollegen aus der isländischen Kirche besaßen vielleicht ein größeres Wissen über Gott, doch der Pastor verstand den Teufel, und in einem Land, das ständig von Erdbeben, Vulkanausbrüchen oder Stürmen bedroht war, in dem Trolle und Geister durch die Gegend streiften und abgelegene Gemeinden im kalten Griff des dunklen Winters
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