Magnus Jonson 01 - Fluch
herunterziehen zu lassen.
Vigdís fuhr die gewundene Straße zur Kirche von Hruni hinauf. Sie hatte fast zwei Stunden von Reykjavík bis dort gebraucht; eine ganz schön lange Fahrt, nur um einen Namen auf der Liste abzuhaken. Aber Baldur hatte darauf bestanden, dass jeder Termin in Agnars Tagebuch untersucht werden müsse, und jetzt war es an der Zeit, den geheimnisvollen Eintrag Hruni vom Montag zu überprüfen.
Zwei oder drei Autos kamen ihr entgegen, dann fuhr sie um eine Kurve, und vor ihr lag das Tal, in das sich Hruni drückte. Wie Rannveig gesagt hatte, gab es hier nichts außer einer Kirche und dem Pfarrhaus unter einem Felsvorsprung. Und den Blick über die Wiesen bis zu den fernen Bergen.
Der Sonntagsgottesdienst musste gerade vorbei sein. Drei Fahr zeuge standen auf dem Schotterplatz vor der Kirche. Zwei von ihnen setzten sich in Bewegung, als Vigdís parkte. Vor der Kirche waren zwei Personen, eine sehr große und eine sehr kleine, in eine angeregte Diskussion vertieft: der Pastor von Hruni und eines seiner weiblichen Gemeindemitglieder.
Vigdís hielt sich im Hintergrund, bis das Gespräch beendet war und die alte Dame mit geröteten Wangen eilig zu ihrem kleinen Wagen humpelte und davonfuhr.
Der Pastor wandte sich zu Vigdís um. Er war ein großer, imposanter Mann, hatte einen dichten Bart und dunkles, graumeliertes Haar. Kurz bekam Vigdís einen Schreck angesichts seiner Größe und offensichtlichen Kraft, doch der Priesterkragen um seinenHals beruhigte sie wieder. Fragend hob er seine buschigen Augen brauen. Daran war Vigdís gewöhnt.
»Vigdís Audarsdóttir, Polizei Reykjavík«, stellte sie sich vor. »Wirklich?«, sagte der Pastor mit tiefer Stimme.
Vigdís seufzte und zückte ihren Ausweis. Der Pastor unter suchte ihn gründlich.
»Können wir uns kurz unterhalten?«, fragte sie.
»Natürlich«, erwiderte er. »Komm doch mit ins Haus!« Er führte Vigdís in das Pfarrhaus und dort in ein Arbeitszimmer voller Bücher und Arbeitsunterlagen. »Setz dich doch! Möchtest du vielleicht einen Kaffee, mein Kind?«
»Ich bin nicht dein Kind«, gab Vigdís zurück. »Ich bin Polizeibeamtin. Aber danke, ich nehme einen Kaffee.«
Sie stellte einen Stapel vergilbter Zeitschriften vom Sofa auf den Boden. Während sie auf die Rückkehr des Pastors wartete, sah sie sich in seinem Arbeitszimmer um. Auf einem großen Schreibtisch lagen aufgeschlagene Bücher, weitere Bücher säumten die Wände. An jedem freien Zentimeter hingen alte Drucke von Szenen der isländischen Geschichte: ein Mann auf dem Rücken eines Fisches oder Wals im Meer, eine einstürzende Kirche, mit Sicherheit Hruni, und drei oder vier Stiche des ausbrechenden Vulkans Hekla.
Durch das Fenster sah Vigdís zwischen alten Grabsteinen und kargen Bäumen die moderne Kirche von Hruni, rot und weiß, wie aus dem Ei gepellt.
Der Pastor kehrte mit zwei Tassen Kaffee zurück und ließ sich auf einem alten Chintz-Sessel nieder, der unter seinem Gewicht quietschte. »Und? Wie kann ich dir helfen, meine Liebe?« Seine Stimme war dunkel, und er lächelte, doch seine tiefliegenden schwarzen Augen blitzten Vigdís herausfordernd an.
»Wir ermitteln im Todesfall von Professor Agnar Haraldsson. Er wurde am Donnerstag ermordet.«
»Ich habe es in der Zeitung gelesen.«
»Wir wissen, dass Agnar vor kurzem hier in Hruni gewesen ist.«Vigdís schaute in ihre Aufzeichnungen. »Am Zwanzigsten. Letzten Montag. Hat er dich hier besucht?«
»Ja. Er kam am Nachmittag, meine ich.«
»Kanntest du Agnar?«
»Nein, überhaupt nicht. Ich hatte ihn noch nie zuvor gesehen.« »Und worüber wollte er mit dir sprechen?«
»Über Sæmundur den Gelehrten.«
Der Name war Vigdís ein Begriff , auch wenn Geschichte in der Schule nicht ihr Lieblingsfach gewesen war. Sæmundur war ein berühmter Historiker und Schriftsteller aus dem Mittelalter. Jetzt fiel es ihr wieder ein: Der Mann auf dem Druck an der Wand war Sæmundur, der auf einem Seehund ritt.
»Was ist denn mit Sæmundur dem Gelehrten?«
Der Pastor antwortete nicht sofort. Seine dunklen Augen versuchten Vigdís zu ergründen. Langsam fühlte sie sich unwohl. Es war nicht das übliche Unbehagen, das sie empfand, wenn Isländer sie als Schwarze anstarrten, denn daran war sie gewöhnt. Dies war etwas anderes. Allmählich bedauerte sie, keinen Kollegen als Begleitung mitgenommen zu haben.
Doch Vigdís war schon von den unangenehmsten Personen böse angestarrt worden. Sie würde sich nicht von einem einfachen
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