Magnus Jonson 01 - Fluch
wusste, dass sie eigentlich noch ein, zwei weitere Fragen stellen musste, aber sie konnte es nicht erwarten, das Haus zu verlassen. »Vielen Dank, dass du dir die Zeit genommen hast«, sagte sie und erhob sich.
»Keine Ursache«, erwiderte der Pastor. Er stand auf und hielt ihr die Hand hin.
Ohne nachzudenken, ergriff Vigdís sie. Der Pastor drückte ihre Hand fest zwischen seine Pranken. »Ich würde gern noch länger mit dir über deinen Glauben sprechen, Vigdís.« Seine Stimme war gleichzeitig demütig und gebieterisch. »Hier oben in Hruni beginnt man, Gott auf eine Weise zu verstehen, wie es in einer Großstadt unmöglich ist. Ich verstehe, dass du eine ungewöhnliche Herkunft hast, aber ich sehe auch, dass du im Herzen Isländerin bist, eine wahre Isländerin. Die Rückfahrt nach Reykjavík ist lang. Bleib doch noch ein bisschen! Unterhalten wir uns!«
Seine großen Hände waren warm und kräftig, seine Stimme beruhigend und sein Blick herrisch. Fast wäre Vigdís geblieben.
Dann brachte sie von irgendwo tief in sich eine enorme Willens kraft auf, entzog dem Pastor ihre Hände und stürzte aus dem Haus. Sie eilte zu ihrem Wagen, rannte beinahe, ließ den Motor an und konnte Hruni nicht schnell genug hinter sich lassen. Auf der gesamten Fahrt zurück nach Reykjavík überschritt sie das Tempolimit.
Colby bewunderte ihr neues Sommerkleid im Spiegel des Schlafzimmers in ihrer neuen Wohnung in Back Bay. Sie hatte es am vergangenen Sonntag bei Riccardi auf der Newbury Street erstanden. Ein kleiner Luxuskauf, aber es sah gut aus. Schlicht. Elegant. Edel. Zusammen mit den Ohrringen wirkte es besonders schick. Die Ohrringe, die Magnus ihr zu ihrem letzten Geburtstag geschenkt hatte.
Magnus.
Sosehr sie sich auch bemühte – und sie strengte sich wirklich an –, sie musste immerzu an Magnus denken.
Wo er jetzt wohl war? In Island? Saß er auf diesem verregneten, gottverlassenen Felsen mitten im Nordatlantik? Es war lächerlich von ihm gewesen, anzunehmen, dass sie wochenlang, vielleicht sogar monatelang unbezahlten Urlaub nehmen würde, um ihn dorthin zu begleiten.
Als ob er seinen Job auch nur für zwei Stunden aufgeben würde, wenn sie mit ihm ins Kino gehen wollte.
Zumindest war er außerhalb des Landes in Sicherheit. Colby wusste, dass er in einer verkommenen, gefährlichen Welt lebte, doch jene Welt war immer weit weg gewesen, bis zu jenem Abend im North End, als man auf sie geschossen hatte. Magnus hatte behauptet, sie befänden sich immer noch in Gefahr. Aber Colby war überzeugt, dass sie umso sicherer war, je mehr Entfernung zwischen ihm und ihr lag.
Sie betastete die Ohrringe. Saphire in einem Kreis aus Diamanten.
Ein teures Geschenk für einen Polizisten. Sie waren wirklich schön.Natürlich war es ein Fehler gewesen, ein großer Fehler, ihn zurEhe zwingen zu wollen. Colby war froh, dass Magnus sich geweigert hatte.
Es lag nicht daran, dass sie ihn nicht attraktiv fand. Ganz im Gegenteil. Es war herrlich, sich an seine breite Brust zu drücken. Sie mochte das Gefühl latenter Macht und Gefahr, das ihn umgab. Magnus konnte einem Angst einjagen, wenn er die Geduld verlor, doch selbst das liebte sie an ihm. Außerdem war er klug und ein guter Zuhörer, und Colby konnte sich den ganzen Abend mit ihm unterhalten. Er war zwar kein Jude, aber damit konnte sie leben, auch wenn ihre Mutter damit nicht klarkam.
Nein, das Problem war: Magnus war ein Loser. Und er würde es immer bleiben.
Das lag natürlich an seinem Beruf. Mit seinem Abschluss von der Brown University hätte Magnus einen viel besseren Job ergattern können, wie sie ihm oft genug erklärt hatte. Aber er wollte nicht. Er war besessen von seiner Arbeit, wollte unbedingt einen Mord nach dem anderen aufklären, auch wenn es dabei nur um die letzten Penner ging. Oft war Magnus der einzige Mensch weit und breit, dem es nicht egal war, wer wen erschossen hatte. Colby wusste, dass es mit seinem Vater zu tun hatte, doch das verdeutlichte ihr lediglich, wie schwer es sein würde, ihn zu ändern.
Nein, nicht schwer. Unmöglich.
Ihre Freundin Tracey hatte gesagt, es sei reine Zeitverschwendung, den eigenen Freund ändern zu wollen. Und eine noch größere Zeitverschwendung sei es, eine Ehe mit dem Ziel einzugehen, den Mann zu ändern. Es klappte einfach nicht.
Magnus’ Entschluss, seinem Vorgesetzten von dem korrupten Kollegen zu erzählen, hatte das Fass zum Überlaufen gebracht. Natürlich war es sehr ehrlich und ehrenwert, aber es war
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