Magnus Jonson 01 - Fluch
zeigen sollte«, sagte Ingileif. Sie holte ihre Tasche hinter der Tür hervor und reichte Pétur Tolkiens Brief, den zweiten, der 1948 verfasst worden war.
Er faltete ihn auseinander und las ihn mit gerunzelter Stirn.
Ingileif hatte eine heftigere Reaktion erwartet. »Da steht, dass Großvater den Ring tatsächlich gefunden hat.«
Pétur sah zu seiner Schwester hoch. »Das wusste ich.« »Das wusstest du? Woher? Seit wann?«
»Großvater hat es mir erzählt. Und er wollte, dass der Ring versteckt blieb. Er hatte Angst, dass Vater nach seinem Tod danach suchen würde. Ich sollte ihn davon abhalten.«
»Warum hast du mir das nicht erzählt?«, fragte Ingileif.
»Das gehörte auch zu unseren Familiengeheimnissen«, gab Pétur zurück. »Und nach Vaters Tod wollte ich nicht darüber sprechen. Über nichts dergleichen.«
»Wenn du ihn doch nur wirklich davon abgehalten hättest«, sagte Ingileif.
Zorn flackerte in Péturs Augen auf. »Meinst du, das werfe ich mir nicht selbst ständig vor? Seit Jahren mache ich mich deswegen fertig. Aber was hätte ich tun sollen? Ich war auf der Oberschule in Reykjavík. Außerdem war ich sein Sohn, ich hatte ihm nichts zu befehlen.«
»Nein, natürlich nicht«, sagte Ingileif schnell. »Es tut mir leid.« Schweigend saßen sie eine Weile da. Péturs Wut verflog.
»In letzter Zeit, seitdem ich diesen Brief gefunden habe, habe ich mir Gedanken über Vaters Tod gemacht«, sagte sie.
»Was meinst du damit?«
»Na ja, er ist mit dem Pastor losgezogen, um den Ring zu suchen. Was ist, wenn sie ihn gefunden haben?«
»Haben sie nicht. Wie kommst du auf die Idee?«
»Ich sollte ihn mal fragen.«
»Wen? Den Pastor? Meinst du nicht, er hätte uns etwas gesagt, wenn sie den Ring wirklich gefunden hätten?«
»Vielleicht ja nicht.«
Pétur schloss die Augen. Als er sie wieder aufschlug, waren sie feucht. »Inga, ich weiß nicht, warum ich so reagiere, wenn ich an Vaters Tod denke, aber es ist immer dasselbe. Ich will das alles vergessen. Ich habe mich in all den Jahren so bemüht, es zu vergessen, aber es geht einfach nicht. Ich bekomme den Gedanken einfach nicht aus dem Kopf, dass alles meine Schuld war.«
»Aber es war doch nicht deine Schuld, Pési«, sagte Ingileif.
»Das weiß ich. Ich weiß es.« Pétur betupfte seine Augen mit dem Finger. Es war seltsam für Ingileif, ihren Bruder, der normaler weise so gefasst und reserviert war, derart bewegt zu sehen. Er schniefte und schüttelte den Kopf. »Oder es liegt doch an diesem verdammten Ring. Als Kind war ich davon besessen, ich hatte regelrecht Riesenangst davor. Als Vater starb, dachte ich, es wäre alles großer Blödsinn, und wollte nichts mehr damit zu tun haben.«
Wütend sah er seine Schwester an. »Und jetzt? Jetzt denke ich, dass er vielleicht sogar unsere Familie zerstört hat. Dass er seit damals, vor tausend Jahren, als Gauk ihn Ísildur auf dem Gipfel von Hekla fortnahm, bis heute wirkt und uns zerstört: Vater, Mutter, Birna, mich, dich.«
Er beugte sich vor, seine feuchten Augen leuchteten. »Es muss ihn ja gar nicht wirklich geben, er muss nur da drin sein.« Er tipptesich mit dem Finger an den Kopf. »Er sitzt bei uns allen im Kopf, in der ganzen Familie. Und da richtet er sein Unheil an.«
Vigdís parkte ihren Wagen in einer der kleinen Straßen, die von der Hverfisgata zur Bucht hinunterführten. Dann stieg sie mit Baldur aus. Die nochmaligen Befragungen an der Universität hatten eine neue Erkenntnis ergeben. Ein uniformierter Kollege hatte einen von Agnars Studenten befragt, einen zurückhaltend wirkenden Einundzwanzigjährigen, der sich erinnert hatte, dass ein Mann am Tag von Agnars Tod an der Uni nach ihm gefragt hatte. Der Student hatte dem Fremden gesagt, Agnar besäße ein Ferienhaus am Þingvellir-See und würde sich dort manchmal aufhalten. Es war nicht klar, warum der Student das bisher nicht erzählt hatte, weder ihm selbst noch der Polizei, aber er hatte auch keine einleuchtende Erklärung dafür, was er an einem gesetzlichen Feiertag auf dem Campus zu suchen gehabt hatte. Die Polizei ging nicht weiter darauf ein.
Nein, der Mann habe seinen Namen nicht genannt. Aber der Student hätte ihn gekannt. Aus dem Fernsehen.
Es war Tómas Hákonarson.
Er wohnte im achten Stock in einem der neuen Luxusapartmentblocks, die im östlichen Teil des alten Hafens entlang der Bucht aus dem Boden gestampft worden waren. Tómas öffnete die Tür mit geschwollenen Augen, als sei er gerade erst
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