Magnus Jonson 02 - Wut
Benni und er waren dicke Freunde, als sie klein waren, aber ich fand immer, dass er Benni ziemlich herumkommandierte. Im Laufe der Zeit lebten sie sich auseinander.«
»Ich kann ihn auch nicht leiden«, gestand Magnus, was Unnurs Tante zu schockieren schien. Die Großeltern zu ehren war ein ungeschriebenes Gesetz in der isländischen Kultur.
»Kannst du dich an meinen Urgroßvater erinnern?«, wollte Magnus wissen. »An Gunnar?«
»Ja«, sagte Hildur.
»Wie war er so?«
Hildur antwortete nicht sofort. »Er war ein schlechter Mensch«, sagte sie schließlich.
»Ein sehr schlechter Mensch«, bestätigte Magnus. »Er hat deinen Vater umgebracht, nicht?«
Schweigen breitete sich im Zimmer aus. Es war nur noch das Ticken der Uhr zu hören, das plötzlich sehr laut klang. »Ja, das glaube ich«, sagte Hildur irgendwann. »Als Kind hatte ich keine Ahnung. Nachdem mein Vater verschwunden war, kam Gunnar oft auf unseren Hof herüber. Er half meiner Mutter bei der Arbeit, er war ein guter Nachbar. Aber er wusste die ganze Zeit, dass er ihren Mann getötet hatte.«
»Wie hast du es herausgefunden? Hat Benedikt es dir erzählt?« Magnus bemühte sich, seine Stimme nicht zu aufgeregt klingen zu lassen. Er wollte die alte Dame nicht einschüchtern.
Hildur musterte ihr Publikum. Kurz dachte Magnus, Ingileif könne recht haben und Hildur würde zu dem Schluss kommen,
dass es sinnlos sei, das Geheimnis noch länger zu bewahren. Doch dann schüttelte sie den Kopf. »Ich kann es nicht sagen. Manche Geheimnisse nehmen die Menschen mit ins Grab.«
»Hast du die Kurzgeschichte Der Ausrutscher von deinem Bruder gelesen?«, fragte Magnus.
Die alte Frau lächelte wissend. »Ja. Doch, das habe ich.«
»Glaubst du, dass dein Bruder Gunnar bei Búlandshöfði in die Tiefe gestoßen hat? Als Rache für das, was Gunnar eurem Vater angetan hat?«
»Ich sage nur, dass Benedikt an dem Tag, als Gunnar ins Meer fiel, aus Ólafsvík zurückkam. Er behauptete, Gunnar nicht gesehen zu haben. Alle glaubten ihm. Benedikt war ein ehrlicher Junge.« Sie zwinkerte. »Er war auch ein ehrlicher Mann. Irgendwann musste er aber die Wahrheit loswerden.«
»Verstehe«, sagte Magnus mit einem Lächeln. »Und vielen Dank.« Er erhob sich. »Auch wenn es schon sehr lange her ist, aber die Sache mit deinem Vater tut mir leid.«
Eine Träne erschien im Auge der alten Dame. »Mir auch.«
Ingileif bekam ihren Willen. Auf dem Rückweg hielten sie trotz Magnus’ Aversion am Berserkjahraun. Sie parkten den Range Rover ein wenig unterhalb des Hofs von Hraun, an der Ostseite des Lavafelds, gegenüber von Bjarnarhöfn.
Hraun sah noch größtenteils so aus, wie Magnus es in Erinnerung hatte: das große Bauernhaus, mehrere Nebengebäude und zwei kleine Hütten. Mit weißem Plastik überzogene runde Heuballen reihten sich auf der Hauswiese aneinander, wo kugelrunde wollige Schafe grasten. Magnus und Ingileif steuerten auf das Lavafeld zu, und nach wenigen Metern fanden sie die Berserkjagata, den Berserkerweg. Es war ein in den Fels geschlagener Pfad von nur wenigen Zentimetern Breite.
»Ich dachte, er wäre größer«, bemerkte Ingileif.
»Wenn man bedenkt, dass ihn zwei Männer in das massive Gestein geschlagen haben, ist er groß genug«, sagte Magnus.
»Dadurch wurde es deutlich einfacher, nach Bjarnarhöfn zu gelangen.«
»Zeig mir mal den Steinhaufen!«
Der Pfad wand sich durch die Felsformationen hinunter in Mulden und wieder hinauf. Der Herbst in Island hatte seine eigene Schönheit. Er war vielleicht nicht so spektakulär wie der Indian Summer in Massachusetts, aber die Heide und das Gras nahmen einen goldenen Farbton an, und die Blaubeerblätter wurden tiefrot. Friedlich.
Magnus erhaschte Blicke auf die kleine Hraunsvík, die Bucht zwischen den beiden Höfen, wo die Lava sich ins Meer ergossen hatte. Zwei Eidererpel in ihrer schwarz-weißen Pracht schwammen in der Bucht auf und ab. Magnus fragte sich, ob die Bewohner von Bjarnarhöfn im Sommer immer noch die mausgrauen Daunen der Enten sammelten, wenn die Küken das Nest verlassen hatten. Hinter der Bucht lagen die flachen Inseln des Breiðafjörður, die Magnus von den Angelausflügen im Ruderboot kannte.
»Das ist alles ziemlich schwer zu begreifen«, sagte er. »Jóhannes, Gunnar.«
»Sieht aus, als hättest du selbst eine Familienfehde«, sagte Ingileif. »Eigentlich ist es total spannend. So wie ganz früher. Arnkel, Þórólf, Snorri und – wie hieß der noch mal – Björn von
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