Magnus Jonson 02 - Wut
früher hin und wieder nach Reykjavík, um einen draufzumachen. Dann schläft er immer bei seinem Bruder Gulli.«
Sie gingen weiter.
»Magnús?«
»Ja?«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass Björn jemanden umgebracht hat.«
Magnus blieb stehen und sah den Constable an. Er hatte einen kleinen Bauch und einen eindrucksvollen Schnauzer, aber freundliche Augen. Die jetzt besorgt dreinschauten.
»Ist Björn ein Freund von dir?«, fragte Magnus.
»Nein. Nicht richtig. Aber …«
»Aber was?«
»Musstest du ihm unbedingt das mit dem Sohn seiner Freundin erzählen? Ich meine, dass dieser Banker der Vater ist? Was hat das die Polizei zu interessieren? Hat Harpa kein Recht, dieses Geheimnis vor ihrem Freund zu verbergen, wenn sie das möchte?«
Magnus verspürte Verärgerung in sich aufsteigen. In einem Ort wie diesem mit vielleicht tausend, maximal zweitausend Einwohnern war der örtliche Polizeibeamte eher seinen Nachbarn gegenüber loyal als dem Kollegen aus der fernen Großstadt.
Andererseits brauchte er Páll.
»Mord ist immer unangenehm. Für das Opfer sowieso, natürlich für dessen Verwandte und Bekannte, aber auch für alle möglichen anderen Leute. Eine Mordermittlung verletzt die Zeugen. Ich weiß, dass du Björn magst, und ich höre, dass du ihn für einen guten Kerl hältst. Aber wir müssen diese Fragen nun mal stellen. Hin und wieder kommt es vor, dass wir Leuten vor den Karren fahren,
netten Leuten. Auch wenn ich, anders als du, nicht überzeugt bin, dass Björn in diese Kategorie gehört.«
Páll brummte etwas.
Sie erreichten ihre Fahrzeuge. Magnus’ Range Rover stand neben dem Streifenwagen vor der Polizeiwache.
Ingileif wartete bereits. Sie strahlte diese kaum verhohlene Aufregung aus, die Magnus schon gut kannte.
»Interessantes Gespräch?«, fragte sie.
»Ganz gut, würde ich sagen«, erwiderte Magnus. »Was ist denn?«
»Páll, nicht wahr?«, sagte Ingileif und lächelte den Constable an.
»Genau.«
»Die Bücherei ist nicht zufällig am Sonntag geöffnet, oder?«
»Nein.«
»Aber du kennst die Bibliothekarin?«
»Ja. Sie ist die Cousine meiner Frau.«
»Besteht vielleicht die Möglichkeit, dass du sie überzeugen kannst, die Bücherei für uns zu öffnen?«
Páll warf Magnus einen kurzen Blick zu. »Warum?«
Ingileif sah Magnus an, ihre Augen funkelten. »Als ich spazieren ging, ist mir was eingefallen. Es gibt eine Kurzgeschichte von Benedikt Jóhannesson. Ich glaube, sie heißt Der Ausrutscher oder so ähnlich. Die muss ich dir zeigen.«
»Ist das eine Polizeiangelegenheit?«, fragte Páll Magnus.
»Nein«, sagte Magnus.
»Aber sicher!«, widersprach Ingileif. »Es geht um einen Mord. Bei Kap Búlandshöfði, vor fünfzig Jahren.«
Páll hob die Augenbrauen. »Ich kann die Bücherei nicht für euch öffnen lassen, aber meine Frau liest so gut wie alles von Benedikt Jóhannesson. Sie kommt aus der Gegend, und er wohnte früher drüben beim Berserkjahraun. Mal sehen, ob sie das Buch hat, das ihr sucht.«
Das Haus des Polizisten lag am Ortsrand; die Fahrt dahin dauerte nur fünf Minuten. Pálls Frau hieß Sara, und sie hatte tatsächlich eine Ausgabe von Benedikt Jóhannessons Kurzgeschichten.
Eifrig suchte Ingileif nach Der Ausrutscher . Die Geschichte war nur fünf Seiten lang.
Sie überflog sie zuerst schnell und begann dann, laut vorzulesen. Ein Junge ritt auf seinem Pferd an der Klippe entlang. Ihm kam ein Mann entgegen, der seine Schwester vergewaltigt hatte. Sie quetschten sich aneinander vorbei, und der Junge gab dem Pferd des Mannes einen Tritt. Tier und Reiter stürzten hinab ins Meer.
»Und?«, sagte Ingileif mit glänzenden Augen.
»Du meinst, Benedikt hätte meinen Urgroßvater bei Búlandshöfði ins Meer gestoßen?«
»Du nicht?«
Magnus’ Blick streifte kurz Páll und seine Frau mit ihren unverhohlen neugierigen Gesichtern. Ohne darüber nachzudenken, hatte er seine Familiengeheimnisse vor diesen Fremden herausposaunt, dennoch mochte es nützlich sein zu hören, ob es Tratsch im Ort gab, der vielleicht etwas mehr Licht auf jene Ereignisse warf. Deshalb erklärte er, wie sein Urgroßvater gestorben war, und er erwähnte auch das Kapitel in Das Moor und der Mann , das nahelegte, Gunnar habe Benedikts Vater getötet.
»Daran kann ich mich erinnern«, sagte Sara. »Es gab einen kleinen Skandal hier, als das Buch herauskam. Ich war damals ungefähr fünfzehn, ich weiß noch, dass meine Eltern darüber redeten. Das geheimnisvolle Verschwinden des Bauern
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