Magyria 01 - Das Herz des Schattens
gesehen. Die Winter, die er bisher erlebt hatte, waren alle mild gewesen, warm und glänzend wie der Herbst davor und der Frühling danach.
Im Herbst fielen die bunten Blätter, Schauer in Rot, Gelb und Grün regneten überall im Wald herab. Im Winter glitzerte das Licht durch die kahlen Äste. Nachts brannte ein Feuerwerk von Sternen am Himmel, sodass es nie völlig dunkel war. Manchmal fiel sanfter Regen, selten fegte
ein Sturm über Akink hinweg. Hin und wieder schneite es sogar, und winzige Schneeflöckchen wirbelten durch den Himmel und überzuckerten die Welt. Diese Unmengen an Schnee waren Mattim fremd, und er bedauerte es sehr, dass er gerade jetzt in Budapest leben musste. Es knirschte unter seinen Schuhen, während er ging. Er spürte, wie seine Füße kalt und nass wurden und sehnte sich nach seinen robusten Stiefeln, die irgendwo in seinem Zimmer in Akink standen. Sofern seine Eltern, fiel ihm siedendheiß ein, nicht alle seine Sachen vernichtet hatten. Wenn er ihnen doch nur hätte sagen können, dass er kein blutrünstiges Ungeheuer war, dass er lange nicht so war wie Kunun, dass er immer noch bereit war, alles für Akink zu geben!
Ein merkwürdiges Geräusch ließ ihn innehalten, ein Laut, der die Stille zerriss, ein Schlagen und Krachen und etwas, das wie ein Wimmern klang. Der Wind trug ihm die Witterung zu. Ein Wolf! Der Prinz hastete vorwärts, ohne jede Vorsicht zu vergessen. Das konnte nur eins bedeuten, und er durfte nicht zu spät kommen, durfte nicht zulassen, dass die Flusshüter ihn fanden …
Der Käfig. Dort stand er, unter einem Gebüsch, das den Schnee auf den Zweigen trug wie eine überbordende Blütenpracht im Frühling. Sie mussten einen der anderen Käfige in die Nähe der Höhlen gebracht haben. Ein kleiner grauer, struppiger Wolf war darin gefangen. Immer wieder warf er sich gegen die Gitterstäbe. Wie ein menschliches Schluchzen klangen die Laute, die er dabei von sich gab. Als er Mattim sah, hob er hoffnungsvoll den Kopf und winselte herzzerreißend. Seine goldgelben Augen waren wie zwei Monde auf den Jungen gerichtet.
»Palig?« Mattim versuchte mit beiden Händen, die Klappe hochzuschieben. »Was machst du denn hier? Gerade du hättest es besser wissen müssen!«
Der Wolf funkelte ihn an. Noch nie, schien es Mattim,
hatte er ein so wildes, lebendiges Wesen gesehen, erfüllt von so viel Atem, Wärme und Herrlichkeit. Auf den ersten Blick war es ein zerzaustes, schmutziges Bündel, auf den zweiten geballte Willenskraft.
»Kein Jagdglück gehabt? Du dachtest wohl, du könntest dir die Beute holen und den Mechanismus austricksen, wie? Was war es? Ein Kaninchen? Eine Ente?«
Erwartungsvoll und zugleich beschämt starrte der Wolf ihn an.
»Das muss irgendwie eingefroren sein … Es lässt sich nicht bewegen, verdammt!«
Der Prinz kniete sich neben den Käfig und streckte eine Hand durch die Stäbe. »Mein Freund, wir müssen uns etwas einfallen lassen. Ich habe leider keine übermenschlichen Kräfte. Wenn wir das Eis hier wegtauen könnten … Ich bräuchte eine Fackel. Könnte ich der Patrouille doch bloß eine rauben … Aber wenn sie kommt, sieht es böse für uns aus, für uns beide. Still!« Er horchte.
Im winterlichen Wald trug jeder Laut weit. Die Flusshüter waren schon unterwegs, um die Fallen zu überprüfen. Er hatte nicht die Zeit, um zur Höhle zu laufen, nach Budapest zurückzukehren und mit irgendeinem praktischen Zaubergerät wiederzukommen.
Aber er konnte seinen ehemaligen Kameraden nicht im Stich lassen. Wut stieg in ihm auf, dass Palig so dumm gewesen war, sich fangen zu lassen, jedoch auch auf sich selbst, dass er jetzt hier war und nichts tun konnte, obwohl er etwas tun musste. Die Nachtwächter kamen heran, in einer großen Gruppe, und welche Wahl hatte er, als sich ihnen zu stellen, als ihnen zu erklären, wer dieser Wolf war und warum sie ihn freilassen mussten? Er würde ihnen befehlen, Palig nicht zu töten und ihn ebenfalls zu verschonen, und sie gleichzeitig vor Kununs Angriff warnen. Vermutlich würden sie Palig trotzdem töten. Und ihre Pfeile auf ihn selbst abschießen. Ihm nicht zuhören. Mit allen Flusshütern auf
einmal zu reden, würde gar nichts bringen, sie würden nur umso erbitterter auf ihn losgehen.
»Du dummer Junge«, flüsterte Mattim. »Du bist ein solcher Idiot.« In diesem Moment wusste er nicht, ob er den Wolf oder sich selbst meinte. Die Flusshüter würden ihn jagen, ihn daran hindern, in die Höhle zurückzukehren. So
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