Magyria 01 - Das Herz des Schattens
sie irgendetwas über die Nacht wissen?
»Bist du es?«, fragte sie. »Wirklich? Oder verwandelst du dich in etwas Schreckliches, wenn ich dich berühre?« Sie legte die Arme um ihn und weinte lautlos.
Er spürte nur, wie das Schluchzen sie schüttelte, hilflos erwiderte er ihre Umarmung und hielt sie fest.
»Mirita!« Die Flusshüter hatten ihr Verschwinden bemerkt, ihre Rufe hallten durch den Wald. »Mirita!«
Die Bogenschützin rührte sich nicht. Sie drückte ihn nur noch fester an sich. »Küss mich«, flüsterte sie. »Küss mich, Mattim, mein Liebster, bitte, küss mich. Küss mich, damit ich dir glauben kann, dass du immer noch derselbe bist.«
Sie reckte ihm das Gesicht entgegen. Hinter ihr sah er schon die Fackeln zwischen den Bäumen.
»Mirita!« Verzweifelt klangen die Rufer, als erwarteten sie, die Hüterin nicht lebendig wiederzufinden.
Mattim hatte keine Zeit, ihr klarzumachen, dass er sie nicht küssen wollte, dass es überhaupt keinen Grund dafür gab. Wenn sie feststellen wollte, ob er auf das Blut der Flusshüter aus war, hätte es ihr reichen müssen, dass er mit ihr sprach, ohne sie zu beißen. Aber wenn er nun auch das noch tun musste, um sie zu überzeugen, bitteschön! Wieder wallte der Zorn in ihm auf, als er sich vorbeugte und ihr einen kurzen Kuss auf den Mund drückte. Ihre Lippen waren kalt wie der Schnee. Doch Mirita griff ihm mit beiden Händen ins Haar, zog sein Gesicht noch näher zu sich heran und begann ihn so wild und leidenschaftlich zu küssen, dass er es, verdutzt und überrumpelt, geschehen ließ. Dann ließ sie ihn plötzlich los, lachte und lief den Flusshütern entgegen, ohne sich noch einmal umzudrehen.
»Ich bin hier! Mir ist nichts geschehen. Hier bin ich!«
Lautlos wich Mattim zurück zwischen die Bäume.
Die Nachricht war überbracht. Merkwürdigerweise konnte er jedoch keine Freude darüber empfinden.
Was um Himmels willen sollte er Hanna sagen?
SECHSUNDZWANZIG
BUDAPEST, UNGARN
Rékas Zimmertür ging leise auf. Hanna hatte es wahrscheinlich nur deswegen gehört, weil sie schon die ganze Zeit mit einem Ohr nach oben gehorcht hatte, weil sie auf die Schritte im Treppenhaus wartete, leichtfüßig, leise, heimlich. Bevor das Mädchen sich in den Flur stehlen konnte, stand Hanna vor ihm. Sie konnte nicht verhindern, dass ihr Blick vorwurfsvoll wirkte, dass ihre Stimme fast so klang wie Mónikas.
»Wo willst du hin?«
»Bin ich hier eingesperrt, oder was?«, schnappte Réka.
Sie hatte ihr schwarzes Haar mit Spangen festgesteckt und trug lange, baumelnde Ohrhänger, die wie Kristalle aussahen. Verletzlich und ungeschützt war ihr Hals, und das Seidentuch verbarg kaum die Einstiche in der glatten Haut.
»Ich dachte, wir verbringen heute Abend mal etwas Zeit miteinander«, schlug Hanna vor. Dass es ständig ein neuer Kampf sein musste! Was immer sie an Freundschaft und Vertrautheit mit Réka aufbaute, hielt nie länger als einen Tag. Am nächsten war sie wieder eine Fremde, die man geduldig und liebevoll erobern musste. Ob es für Kunun wohl auch so schwer war? Nein, bestimmt nicht. Er musste bloß mit den Fingern schnippen, und schon kam sie angerannt.
Réka blickte skeptisch. »Du wartest doch nur darauf, dass ich abhaue, damit du deinen Freund anrufen und herbitten kannst.«
Mattim hatte sich den ganzen Tag nicht blicken lassen.
Hanna machte sich schon Sorgen, aber darüber konnte sie mit niemandem reden. Mónika und Ferenc hatten sie gebeten, an diesem Abend bei den Kindern zu bleiben. Daher konnte sie nicht fort und Mattim suchen. Sie konnte ihn auch nicht anrufen, schließlich besaß er kein eigenes Telefon. Letztendlich hatte sie darauf gehofft, dass er irgendwann vor der Tür stand. Nur damit sie wusste, dass es ihm gutging, dass er in Sicherheit war. Dass es kein Fehler gewesen war, ihm den Code für den Aufzug zu geben. Wenn er in Magyria geblieben war … oder wenn Kunun ihn erwischt hatte …
»Was ist?«, fragte Réka und wirkte für einen Moment wie der freundliche Mensch, der sie als Kind wahrscheinlich gewesen war und in den sie sich hoffentlich irgendwann wieder verwandeln würde. »Alles in Ordnung?«
»Ja, natürlich.« Es war eine Lüge, und es hörte sich an wie eine. »Réka, deine Eltern erwarten, dass du hierbleibst, das weißt du. Wollen wir uns nicht zusammen ins Wohnzimmer setzen?«
»Was ist mit deinem Freund?«, fragte das Mädchen. Die Aussicht, mehr zu erfahren, machte sie immerhin so friedlich, dass sie sich dazu
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