Magyria 01 - Das Herz des Schattens
gefangen bist. Weil du mitkommst, um Luftballons zu kaufen, und weil du eine Nacht lang mit dem Aufzug rauf und runter gefahren bist und weil du lesen lernst und krakelige Buchstaben schreibst und weil …«
Diesmal küsste er sie.
Weil du bist, wie du bist. Nicht wie Kunun. Nicht wie irgendjemand sonst, den ich kenne. Prinz des Lichts.
Von der Fischerbastei aus hatte man einen grandiosen Blick auf das Parlament am anderen Donauufer. Wenn man sich umdrehte, schaute man direkt auf die Rückseite des Hotels, auf hellen Beton und dunkles Glas. Von der Bastei aus waren es nur wenige Schritte in den Kreuzgang, der von dem alten Dominikanerkloster aus dem dreizehnten Jahrhundert übrig geblieben war. Das schmiedeeiserne Tor stand offen. Das ehemalige Kloster dominierte auf dieser Seite über den modernen Anbau des Hotels. Die Mischung aus Altem und Neuem war überwältigend.
Jeder konnte den Hof betreten, sich am Flair der Mauerreste und angestrahlten Säulen erfreuen. Allerdings suchte nicht jeder nach einem dunklen Schatten, in dem man ungesehen verschwinden konnte. Natürlich gab es auch hier eine Kamera. Und wer alles aus den Fenstern sah, konnte man nicht wissen. Nur im tiefsten Schatten, schon halb unter dem Gebäude, fühlte Hanna sich einigermaßen sicher.
»Wir hätten auch einfach in die Eingangshalle marschieren können«, flüsterte sie. »Warum tun wir uns das bloß an?«
»Davon würde Kunun sofort erfahren. Die Angestellten haben mich mit ihm zusammen gesehen. So viel können wir gar nicht bezahlen, dass sie es ihm nicht verraten.«
Hanna war so aufgeregt, dass sie unkontrolliert zu kichern begann. Mattim musste sie mit einem langen Kuss ruhigstellen.
Hanna atmete tief durch. »Okay. Weiter geht’s.«
Er zog sie durch die Wand. Ruhig war es hier unten. Ein dunkler Flur, auf dem Sessel herumstanden und auf ihren Einsatz warteten. Ein Konferenzraum. Verstohlen arbeiteten sie sich vor. Vor den Fahrstühlen zuckte Hanna zurück, denn auch hier waren Kameras installiert. Lautlos schlichen die beiden zurück. Das Mädchen legte die Hand auf die Klinke einer unscheinbaren Tür.
»Die Nottreppe. Das sollte uns weiterhelfen.«
Im grauen, schmucklosen Treppenhaus stiegen sie nach oben. Mattim schüttelte den Kopf, als seine Begleiterin versuchte, die Tür zu öffnen.
»Nein, wir gehen hier durch ins nächste Zimmer. Niemand darf uns sehen.« Der Prinz blieb unerbittlich.
Vielleicht machte es ihm auch einfach zu viel Spaß, durch Wände zu gehen. Hanna hatte sich immer noch nicht an das Gefühl gewöhnt. Jedes Mal rechnete sie damit, gegen eine Mauer zu prallen, und dennoch glitt sie immer mit ihrem Freund zusammen hindurch, als gäbe es gar keine feste Materie, nur die Illusion davon. In seiner Nähe war es, als würde sich die gewöhnliche Welt in ein Zauberreich verwandeln, in dem alles möglich war. Aus dem Hilton wurde ein märchenhafter Palast, durch den sie wie Geister schwebten, auf der Suche nach den Geheimnissen des bösen Königs. Zugleich hatte es etwas erschreckend Reales, vor Schritten in dunkle Nischen auszuweichen und sich in fremden Räumen wiederzufinden. Mattim lachte leise, als sie auf diese Weise wieder einem Hotelangestellten entkommen waren. Was war, wenn sie in ein Zimmer platzten, in dem sich jemand aufhielt? Jemand, der sie sah, der schrie, der sich nicht beruhigen ließ und dafür sorgen würde, dass jeder in dem Hotel von dem Vorfall erfuhr?
In den Augen des Jungen glomm etwas auf, und er musste nicht aussprechen, woran er dachte.
»Das würdest du nicht tun«, flüsterte sie.
»Kunun darf nicht einmal auf die Idee kommen, dass wir hier waren«, gab Mattim zurück.
Hanna schluckte. Es war schwer, sich vorzustellen, dass ihr Liebster einen Menschen beißen konnte, um ihn zum Vergessen zu zwingen. Es war schwer, sich daran zu erinnern, dass er mehr war als ein freundlicher Siebzehnjähriger mit jeder Menge Wissenslücken über diese Welt. Dass er ein Krieger war, der für seine Stadt kämpfte.
»Hier ist die Tür. Ist der Gang frei? Dann gehen wir jetzt hindurch.«
Er klopfte nicht an, und sie machte sich bereit, aufzuschreien, wenn sie im Zimmer Kunun antrafen, wenn er sie anblickte und die Augenbrauen hochzog …
Die beiden standen im Dunkeln. Es machte keinen Sinn, auf Atemzüge zu horchen. Mattim drückte den Lichtschalter.
»Meine Güte. Er lebt hier nicht schlecht, wie?«
»Die Bücher«, erinnerte der Prinz. »Komm, hier auf dem Tisch. Und jene da. Dort lag
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