Magyria 01 - Das Herz des Schattens
hört.«
Mirita starrte ihn entsetzt an und schüttelte den Kopf. »Mattim, wie stellst du dir das vor? Deine Mutter soll herkommen, in den Wald, noch dazu auf diese Seite?«
»Wartet sie denn nicht auf Nachrichten von mir?«, fragte er zurück. »Du durftest herkommen und mit mir reden. Euer Anführer weiß Bescheid, habe ich Recht? Hat meine
Mutter ihm aufgetragen, dich allein gehen zu lassen? Wenn sie das riskiert - dich ohne Begleitung in den Wald zu schicken! -, dann glaubt sie wirklich daran, dass ich dir nichts tue. Dass ich euch helfen kann. Dann wird sie auch selbst mit mir reden.«
Die Bogenschützin schüttelte den Kopf. »Mattim, ich kann ihr Botschaften bringen, aber sie selbst herzuholen, das ist purer Wahnsinn! Weißt du, was du da verlangst? Ich soll die Königin hierherbringen - auf diese Seite des Flusses? Was, wenn wir sie verlieren?«
»Ich dachte, du traust mir«, sagte er. Dieses Vertrauen war alles, was er hatte, das, was letztlich zwischen Akink und der Vernichtung stand. Ausgerechnet Mirita.
»Ja«, sagte sie. »Ja! Allerdings bist du nicht der einzige Schatten. Was, wenn es eine Falle ist? Ich sage nicht, dass du sie uns gestellt hast! Was, wenn die Königin jemand anders in die Hände fällt? Das können wir nicht riskieren. Mattim, das darfst du nicht verlangen. Das ist genau das, was die dunkle Seite vorschlagen würde!«
»Wir haben keine Wahl«, sagte der Junge. »Dafür bin ich ein Schatten geworden. Und dafür bist du in der Nachtwache. Ich weiß, worum ich dich hier bitte. Ich weiß, welcher Gefahr ich meine Mutter aussetze. Glaub mir, niemandem ist das bewusster als mir. Ich kenne die Schatten … Trotzdem ist das der einzige Weg.«
Er griff nach ihrer Hand. »Bitte, Mirita. Du musst mir vertrauen.« Was würde sie tun? Immer noch war alles denkbar. Dass sie blind tat, was er wollte, aber genauso, dass sie die anderen Hüter rief und ihn zusammen mit ihnen auf den Fluss zutrieb, bis es für ihn kein Entkommen mehr gab.
Ihre Hand lag in seiner, klein und kalt. Ein Stück Früchtebrot in ihrer Faust, zerdrückt und klebrig, immer noch hielt sie es fest. »Na gut«, sagte sie. »Ich gehe zur Königin und spreche mit ihr. Gleich morgen früh.«
»Jetzt!« Er musste an sich halten, um nicht zu schreien.
»Jetzt, Mirita, sofort. Ich kann nicht so oft herkommen, jedes Mal riskiere ich, dass ich auffliege. Es geht um eine Sache von äußerster Wichtigkeit, und jeder Tag ist ein verlorener Tag. Geh jetzt, bitte. Ich werde auf euch warten, genau hier. Wie weit reichen die Anweisungen der Königin? Wird die Brückenwache dich durchlassen?«
Mirita atmete hastig, und er konnte spüren, dass sie zitterte.
»Ich nehme den Weg über den Fluss«, sagte sie.
»Du tust was?« Die Nachricht traf ihn wie ein Schlag. »Der Donua ist schon gefroren? Das ist unmöglich! Doch nicht jetzt schon!«
»Komm«, forderte sie ihn auf. »Sieh es dir an.«
Die beiden mussten nicht weit laufen, und dort war der sanfte Schimmer, der über der Burg leuchtete, schon zu schwach, um die Nacht zu erhellen. Der Fluss lag totenstill vor ihm, eine glatte Fläche in makellosem Weiß, unberührt wie ein weites Feld im Schnee.
»Nein«, murmelte er, »nein, nein … Dann kann es jederzeit geschehen. Verstehst du? Jederzeit. Schon morgen … Wir haben keine Zeit mehr. Es geht nicht um Tage, sondern um Stunden … Wir müssen die Pforte schließen. Ich hatte gedacht …« Er schlug die Hände vors Gesicht.
»Was denn? Was ist los? Wofür ist keine Zeit mehr?«
»Ich kann keine langen Erklärungen abgeben«, sagte er. »Geh und hol die Königin.«
»Die Schatten gelangen nicht über den Fluss«, erwiderte Mirita. »Das stimmt doch? Egal, ob er gefroren ist oder nicht? Mattim?«
Er näherte sich dem Ufer. Vorsichtig, langsam. Der starren Kühle des vertrauten Flusses, des Donua, wie einem Freund mit einem neuen Gesicht. So mochte Mirita empfinden, wenn sie auf ihn zulief, auf den Prinzen, der ein Schatten geworden war. Der Schnee knirschte unter seinen Füßen. Die eisüberfrorenen Binsen klirrten leise, als er
sie streifte. Da war das Wasser, dort … Er zögerte, streckte den Fuß aus, zog ihn wieder zurück. Neulich in Budapest, als die Wellen über ihm zusammenschlugen, als das dunkle Wasser der Donau ihn verschluckte, hatte er etwas gefühlt, hatte er etwas Entscheidendes gewusst. Ein anderes Gefühl, eine Kenntnis, so wie man bei einem Kuss mit geschlossenen Augen schmecken konnte, wen man küsste. Hanna
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