Magyria 01 - Das Herz des Schattens
sie einfach zur Seite. Mit raschen Schritten ging er durch die Zimmer, kehrte dann zu ihr zurück und baute sich vor ihr auf.
»Wo ist Mattim?«
»Ich - ich weiß es nicht«, stammelte sie. »Ich bin eingeschlafen … Ich glaube, er wollte mir etwas zu essen holen.«
Sie versuchte zu lächeln, zaghaft, doch es geriet zu einer kläglichen Grimasse. »Der Kühlschrank ist ja nicht gerade voll.«
Kunun lächelte auch jetzt nicht. Er weiß es , musste sie denken, er weiß es … Aber sie hatte keine Wahl und musste weiterhin so tun, als wäre alles in Ordnung, denn vielleicht war es nur die Angst, die ihr Kunun als allwissenden Zauberer vor Augen malte. Der Schattenprinz, der sich für unbesiegbar hielt und den sie und Mattim eines Besseren belehren würden.
Er stand vor ihr, groß und unnahbar, streckte die Hand aus, beinahe zärtlich, und strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Die Geste erinnerte sie so sehr an Mattim, dass es kaum zu ertragen war, als wären die beiden Brüder Zwillinge, ein heller und ein dunkler, zwei Seiten ein und derselben Medaille.
»Es ist nicht klug von Mattim, dich allein zu lassen.«
»Warum nicht?« Hanna zwang sich weiterzusprechen. Ihre Beine hörten schon fast auf zu zittern, während sie in sich nach der Kraft suchte, Kunun standzuhalten, was auch immer er vorhatte. »Keiner der Schatten hier wird mir etwas antun.«
Mit den Händen berührte er immer noch ihr Haar, griff nach der nächsten Strähne, legte ihr auch diese über die Schulter. Gleich wird er mich beißen , dachte sie verzweifelt. Nein, nein! Trotzdem wich sie auch jetzt nicht vor ihm zurück.
»Blut, freiwillig geopfert«, sagte Kunun. »Du hast gesehen, was es bewirken kann. Es gibt uns die Macht, dem Licht zu widerstehen. Es gibt uns die Macht, nach Akink zurückzukehren. Was würdest du tun, mein Kind, damit Mattim nach Hause gehen und geheilt werden kann? Würdest du ihm dein Blut geben? Wie viel würdest du bezahlen, für jede seiner Wunden?«
Hanna wusste im ersten Moment gar nicht, was sie erwidern
sollte. Worauf wollte der Vampir hinaus? »Was?«, stammelte sie. »Was soll ich bezahlen?«
»Ich dachte, ihr hättet darüber gesprochen«, sagte Kunun. »Was Blut für einen Schatten bedeuten und welche Heilung das Licht bringen kann, wenn man gegen seine tödlichen Auswirkungen gewappnet ist. Mit deinem Blut wird Mattim zurück nach Akink gehen und seine Verletzungen heilen lassen können. Ist es dir das wert? Würdest du das tun, dich aufgeben - für ihn?«
Vielleicht war es die Müdigkeit, die ihr das Hirn vernebelte, aber sie konnte nicht begreifen, wovon er sprach. Sie gab Mattim doch schon ihr Blut. Das wusste Kunun. Was sollte sie denn noch tun?
»Du weißt, dass ich ihn liebe«, sagte sie. »Was willst du eigentlich von mir?«
»Was glaubst du, wie ich ein paar hundert Vampire über den Fluss bringen werde? Sag es mir, mein Mädchen. Wie könnte das gehen?«
»Blut«, flüsterte Hanna. »Freiwillig geopfert.«
Ihr dunkles Haar glitt wie Seide durch seine Finger.
»Wessen Blut könnte das sein?« Er flüsterte es so nah an ihrem Ohr, dass seine Lippen ihre Wange streiften.
Mattim wartete, Bela immer noch an seiner Seite. Der Wolf hatte den Kopf auf die Vorderläufe gelegt und starrte über den Fluss hinüber nach Akink. Der Prinz saß neben ihm, die Hand in dem dichten Pelz, und übte sich in der Tugend eines Brückenwächters. Die Nacht verstrich, sanft und langsam wie ein Blatt, das sich vom Zweig löst. Endlich hob der Wolf den Kopf, noch bevor Mattim erkennen konnte, wer sich näherte. Mirita? Da, eine dunkle Gestalt, die über das Eis lief. Daneben eine zweite, größere, in ein hellgraues Gewand gehüllt, die Kapuze über dem hüftlangen Haar.
Bela erhob sich und war sofort wieder ein Untier, riesig
und drohend, und Mattim erinnerte sich mit Schaudern, wozu der Wolf in der Lage war. Ein Schattenwolf. Wenn sie beide wirklich auf Kununs Seite gestanden hätten, wäre es unendlich einfach gewesen, noch mehr Dunkelheit auf Akink herabzuziehen, die Nacht zu vertiefen, so dass sie nie endete. Eine Schattenfrau zu erschaffen, wie es keine zweite gab. Wenn Bela sich dazu entschlossen hätte, dann hätte es keinen Weg gegeben, ihn daran zu hindern. Doch der Wolf rührte sich nicht. Er schaute nur auf die graue Gestalt, und Mattim war es fast, als könnte er seine Gedanken mitdenken und seine Gefühle mitfühlen. Es war so lange her, dass Bela der Sohn dieser Frau gewesen war, einer der
Weitere Kostenlose Bücher