Magyria 01 - Das Herz des Schattens
zitterten, als sie auf das Foto stieß. Behutsam zog sie es zwischen Baumwollschlüpfern und ein paar Seidentangas, für die das Mädchen einfach noch nicht alt genug sein konnte, hervor. Es war ein DIN-A4-Bogen, ein unscharfer Ausdruck von einem Farbdrucker, doch unzweifelhaft war das Rékas Geheimnis, sonst hätte sie es nicht hier aufbewahrt.
Ein Mann. Natürlich.
Der Fremde hatte nicht gemerkt, dass man ihn fotografiert hatte. Er schien an einer Art Theke zu stehen und mit jemandem zu reden, der nicht auf dem Bild war. Die Beleuchtung war grauenvoll und der Ausdruck grob und unscharf, und doch war dieser Kerl dermaßen attraktiv, dass nicht einmal das unvorteilhafte Foto diesen Eindruck schmälern konnte. Er war ganz in Schwarz gekleidet. Auch sein Haar war schwarz. Schräg blickte er an der Kamera vorbei, sodass sein Gesicht im Halbprofil zu sehen war. Die Augen lagen im Schatten, aber sein Lächeln war einfach umwerfend.
Hanna schob das Bild wieder zurück in die Schublade, griff sich den Papierkorb und floh. Sie war diesem Mann schon einmal begegnet. Es war der Typ von der Brücke, der Réka »Prinzessin« genannt hatte.
FÜNF
AKINK, MAGYRIA
In seinem Traum wurde Mattim wieder von Wölfen durch den Wald gejagt. Immer, wenn er sich umdrehte, blickte er in die dunklen, wissenden Augen der silbergrauen Wölfin. Er floh. Nein, er lief mit ihnen. Je länger er mit ihnen durch den Wald rannte, umso mehr verblassten die Furcht und die Panik. Sie liefen dort alle, gemeinsam, er und die Wölfe. Er fühlte die Leichtigkeit in seinen Füßen, in seinen Gelenken. Er brauchte die Hände, um besser laufen zu können. Das Schwert fiel nutzlos zu Boden, er benötigte es nicht mehr. Er gehörte zum Rudel. Im Nacken spürte er den heißen Atem der Wölfin. Sie schnappte zu, aber er empfand keine Angst. Der kurze Schmerz war nichts gegen das, was er tun würde. Knurrend und bellend warf er sich herum …
… und fand sich auf dem Fußboden wieder. Stöhnend richtete Mattim sich auf. Er fühlte sich zerschlagener als zuvor. Wieder einen ganzen Tag verschlafen. Das war keine Seltenheit, seit er zur Nachtschicht der Flusshüter gehörte. Dennoch hatte er das Gefühl, dass ihm das Licht entglitt, dass er von einer Dunkelheit zur nächsten lebte.
Der Wolf. Morrit hatte ihm später gesagt, es sei eine Wölfin gewesen, die große, silbergraue, die ihn gejagt hatte. Ihm war, als hinge ihr Gewicht immer noch an seinem Rücken, und er spürte das Erschrecken und die Wucht des Sturzes. Er konnte immer noch fühlen, wie es war, zu fallen, den Tod im Nacken. Sobald er die Augen schloss, war alles wieder da.
Vorsichtig wusch sich Mattim und wickelte sich dann einen weißen Schal doppelt um die Schultern. Falls es wieder zu bluten begann, würde niemand es bemerken. Sicherheitshalber zog er eine dunkelgrüne, brokatbestickte Weste über das helle Hemd und legte den Umhang um. Jede Bewegung tat weh. Sein ganzer Körper verlangte nach Ruhe, nach mehr Schlaf für die Heilung. Aber dafür hatte er keine Zeit. Wenn Mirita schon mit seinen Eltern gesprochen hatte, begann in Kürze sein Dienst.
Mattim biss die Zähne zusammen, als er die Treppe hinunterging. Draußen lehnte er sich über die niedrige Begrenzungsmauer und blickte auf das Blau des Donua. Gleich würde er erfahren, ob er für die nächste Schicht eingeteilt war.
Er musste nicht lange suchen, bis er seinen Vater fand. Früher hatten sie oft zusammen auf der Mauer gestanden und den Anblick auf sich wirken lassen. Vor ihnen der Fluss, der Wald, der sich endlos, bis zum Horizont, erstreckte. Hier hatten sie gestanden, und hin und wieder hatte einer von ihnen etwas gemurmelt, was keine große Bedeutung hatte. Seine Mutter erzählte ihm Geschichten, aber zwischen seinem Vater und ihm waren nie viele Worte nötig gewesen.
Nachdenklich blickte Farank über den Fluss auf das jenseitige Ufer. »Müde?«, fragte er.
»Ein wenig«, antwortete Mattim. »Ich bin bereit zum Dienst.«
Der König antwortete nicht sofort auf die unausgesprochene Frage. Er sucht nach Worten, um mir die Absage schmackhaft zu machen , dachte Mattim. Ich sehe es in seinem Gesicht. Manchmal flackerte etwas von der alten Verbundenheit wieder auf, und sie brauchten keine Worte, um sich zu verstehen. Es tat dem König leid, seinen Sohn zu enttäuschen, und dennoch würde er es tun. Also keine Rückkehr zu den Flusshütern.
Schließlich sagte sein Vater: »Ich habe dich der Brückenwache zugeteilt.«
»Der
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