Magyria 01 - Das Herz des Schattens
hervor.
Kunun lachte leise. »Du hast einmal davon gekostet. Nun wirst du nicht wieder damit aufhören können. Glaubst du, es ist eine Sache der Willensstärke? Du überschätzt dich, Brüderchen. Meinst du, du wirst mit etwas fertig, was stärker ist als jeder von uns? Im Gegenteil. Du stehst ganz am Anfang. Du hast keine Chance, etwas zu beherrschen, was einem mit jahrzehntelanger Übung schwer genug fällt. Ich kann mir nehmen, wie viel ich will. So viel, wie ich brauche. Wann ich es will. Von wem ich es will.«
»Ich habe fast die ganze Nacht durchgehalten«, erinnerte Mattim leise.
»Doch jetzt«, sagte Kunun, »jetzt, da du wieder weißt, was Leben ist … Wenn du die Gelegenheit hast zu fühlen, wie es ist, wenn das Blut einem durch die Adern fließt, wenn das eigene Herz in der Brust schlägt, wenn du von einem Augenblick zum andern lebst, mit Hoffnung … Wie lange wirst du künftig wohl durchhalten?«
Mattim versuchte Kunun die ganze Verachtung, die er empfand, entgegenzuschleudern, mit einem Blick wie ein Pfeilhagel, aber die schwarzen Augen seines Bruders fixierten ihn unerbittlich, und schließlich senkte er den Kopf.
»Heute Nacht gehen wir rüber«, entschied der Schattenprinz. »Sag den anderen Bescheid, Atschorek. Das wird sich keiner von ihnen entgehen lassen wollen.«
»Du wirst mir keine Schande machen«, sagte Kunun zu Mattim. »Du tust genau das, was ich dir sage. Ist das klar?«
Er fixierte Mattim mit einem dunklen, beißenden Blick. Nein!, wollte der Jüngere rufen. Nein, nein und nochmals nein. Doch er konnte die Gelegenheit einfach nicht ungenützt verstreichen lassen, mit den anderen Vampiren nach
Magyria zu gehen. Nach Hause … Seit er das Schreckliche getan und einen Menschen gebissen hatte, sehnte er sich noch mehr als vorher in seine Heimat zurück. Akink. Die Burg, durchflutet vom Licht. Die Stimmen seiner Eltern im Salon. Die Hand seiner Mutter auf seinem Haar. Er würde sich die Bettdecke über den Kopf ziehen und wissen, dass alles nur ein Traum war. Kunun und Atschorek, die anderen Vampire, diese Stadt der steinernen Löwen, alles nur ein Traum … Doch dann wäre auch Hanna ein Traum gewesen. Nicht vorstellbar, dass er sich jemals jemanden wie sie ausgedacht haben könnte. Ihre warme Haut, ihr rindendunkles Haar … Manchmal fiel es ihm schwer, ihr Gesicht festzuhalten. Er dachte an sie, und sie schien ihm zu entgleiten, als wäre sie nichts als eine Wolke, die, vom Wind zerrissen, ihre Gestalt verlor. Mit ihrem Blut trug er ein Gefühl für sie in sich, ein unvergleichliches Gefühl, den Abglanz eines Lebens, das nicht das seine war, einen Vorgeschmack von etwas, was ihm nie gehören würde. Niemals. Er war nur aus einem einzigen Grund hier: um für Akink zu kämpfen. Ihr Blut verlieh ihm die Kraft dafür, von mehr durfte er nicht träumen.
»Nun, was ist?«, fragte Kunun. »Willst du lieber hierbleiben? Oder ringst du dich vielleicht doch noch zu einem Ja durch?«
Nein. Nein! Mattim unterdrückte das Beben in seinen Händen, den wahnwitzigen Wunsch, Kunun zu schlagen, und zwang seinen Kopf zu einem Nicken.
»Ja.« Er war zum Vampir geworden, um hinter Kununs Geheimnisse zu kommen, auch wenn das bedeutete, jeglichen Stolz aufzugeben und Ja zu sagen, wenn er eigentlich nur Nein rufen wollte, nein, nein und immerzu nein.
Kunun nickte zufrieden. »Dann komm.«
Er ließ Mattim den Vortritt, stieg nach ihm in den Fahrstuhl, drehte ihm den Rücken zu und ließ eine Hand über die Knöpfe tanzen. Dann drehte er sich um und lächelte
über die Enttäuschung, die der Junge nicht so schnell verbergen konnte. Es war ihm nicht gelungen, einen Blick auf den Code zu erhaschen, mit dem man den Fahrstuhl dazu brachte, ins Untergeschoss zu fahren.
»Um dich allein nach Magyria zu lassen, ist es noch ein bisschen früh, findest du nicht?«
»Wenn du meinst.«
Hatte man erst einmal damit angefangen, Kunun zuzustimmen, wurde es immer leichter. Was wohl die anderen Schatten empfanden, wenn sie sich unter Kununs Herrschaft beugten - zumal sie zuvor stolze Flusshüter gewesen waren? Ihnen merkte man es nicht an, ob es ihnen schwerfiel. Eine ganze Schar wartete bereits im Keller auf sie. Nur Vorfreude auf den bestehenden Streifzug las Mattim in ihren Gesichtern.
»Auf zur Jagd!«, rief Goran fröhlich. Goran. Seine Goran! Das hübsche Mädchen mit den blonden Locken, Seite an Seite hatten sie gegen die Schatten gekämpft - wie konnte sie so schnell vergessen haben, wer sie war und
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