Magyria 02 - Die Seele des Schattens
Schatten sich den Weg zum Tor bahnen. Bald waren sie überall. Sie liefen durch Mauern und Häuser. Kleine, erschrockene Wölfe sprangen ihnen aus dem Weg. Die Soldaten schrien. Aus der Burg strömten Wachen und noch mehr Wachen. Das Horn tönte und rief die Flusshüter zu Hilfe. – Da erklang es tatsächlich.
Zu Hilfe! Gefahr! Schatten! Gefahr! Schatten! Zu Hilfe!
» Da sind sie«, sagte Solta, die Stimme bebend vor Erwartung. »Die Hörner. Genau wie du es vorausgesagt hast, Prinz Mattim. Sie rufen uns zurück.«
Mattim nickte. »Dann los. Führ deine Krieger nach Akink.«
Gebannt sah er vom Waldrand aus zu, wie die ersten Schatten die Brücke betraten und durch das Spalier der Wächter marschierten. Die Lampen leuchteten in ihre Gesichter, von denen die Brückenwächter jedes einzelne kannten. Einer nach dem anderen schritten sie durch das lebende Geländer aus treuen, bis an die Zähne bewaffneten Soldaten, Dienern des Lichts.
Diejenigen, deren Bisswunden nicht unter der Kleidung verborgen waren, kamen weiter hinten, die entstellten Gesichter geneigt, Hals oder Hände mit Tüchern umwickelt. Wikor war der Letzte. Mattim hatte ihm befohlen, an seiner Seite zu warten, bis die anderen auf der Brücke waren. So ganz traute er ihm immer noch nicht.
»Jetzt bist du dran«, sagte er schließlich. »Geh. Vergiss nicht, du bist ein Schatten.«
Wikor trat aus dem Wald.
»Verrat!«, brüllte er. »Es sind Schatten! Schatten!«
Mattim fluchte. Er musste das Zeichen nicht geben; im selben Moment, als Wikor schrie, schienen die Brückenwächter zum Leben zu erwachen. Aus stumm dastehenden Statuen wurden wütende Krieger, und sofort fing der Kampf an.
Der junge Prinz rannte auf das Ende der Brücke zu, wo die letzten Schatten sich den Zugang erringen mussten. Wikor versuchte sie davon abzuhalten.
»Hör damit auf!«, rief Mattim.
Der Soldat grinste. »Für Akink!«, schrie er. »Für das Licht!« Mit erhobenem Schwert stürmte er auf seinen Feind zu. »Jetzt bist du dran! Schatten! Schatten!«
Lautlos glitten sie aus dem Wald und aus dem hohen Gras am Ufer hervor: Wölfe, die ihn ansprangen, bevor er den Prinzen erreichen konnte. Wikor ging zu Boden, aber sein Gebrüll ließ nicht nach. »Unsterblich bin ich, oder nicht? Ihr könnt mich nicht noch einmal töten!«
Mattim trat ihm auf den Arm und wand ihm das Schwert aus den Fingern.
»Du bist, was ich war«, sagte er. »Deshalb dauert mich dein Schicksal. Aber niemand hätte heute sterben müssen. Wir wollten verwandeln, nicht töten. Werft ihn in den Fluss.«
Wieder durchfuhr ihn der Schmerz, sein ständiger Begleiter. Jedes seiner eigenen Worte war wie Gift, das er hinunterschlucken musste, ohne aufzubegehren. Die Wölfe zerrten den breitschultrigen Mann die Uferböschung hinunter. Mattim wollte nicht hinsehen und konnte doch nicht anders.
Ja, schau hin. Das ist es, was du tust, genau wie Kunun. Gefolgsleute opfern für den Sieg. Weißt du nicht mehr? Auch dein Bruder stieß einen seiner eigenen Männer ins Wasser … Nun bist du wie er.
Das war der Preis, den er zahlen musste.
Aber er konnte nicht. Er war dabei, ganz Akink zu vernichten – war es nicht lächerlich, dass er es nicht vermochte, diesen einzelnen Soldaten in den Tod zu schicken? Wikor, den er noch nie hatte leiden können … den Besten von allen, den Einzigen, der sich nicht hatte verwandeln lassen.
»Nein!«
Die Wölfe hielten inne, überrascht.
»Nein«, wiederholte Mattim. Nun war ihm ein wenig leichter. »Nicht in den Fluss. Bringt ihn in den Wald.« Wie gut, dass er das nicht begründen musste. Er schaute nicht dabei zu, wie ein paar Wölfe den schimpfenden, um sich schlagenden Schatten fortzerrten.
»Kommt!«, rief er die Übrigen, die an seiner Seite auf den nächsten Befehl warteten. »Unsere Krieger brauchen Unterstützung auf der Brücke, ihr müsst ihnen Pforten öffnen.«
Der Kampf war in vollem Gange. Ein Wächter schlug einem der verwandelten Flusshüter die Waffe weg und durchbohrte ihn mit dem Schwert. Der Mann schrie in Todesqualen, stürzte zu Boden und heulte. Obwohl Mattim wusste, dass er bald wieder aufstehen würde, fühlte er sich, als hätte man ihm persönlich eine Klinge in den Leib gerammt.
»Das wirst du büßen!«, schrie er und ging auf den Brückenwächter los. Der Prinz kannte das Gesicht dieses Mannes. Unzählige Male war er an ihm vorbei über die Brücke marschiert, Abend für Abend hatte er den stummen Gruß, das ehrerbietige Nicken empfangen, das
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