Magyria 02 - Die Seele des Schattens
schnell sehen sie ein, dass ihnen nichts anderes übrigbleibt, dass sie keine Wahl haben.«
»Du hast niemanden umgebracht«, versuchte sie ihn zu trösten. »Die Schatten werden bald in Akink wohnen können. Wenn der König geflohen ist, werden sie nicht einmal Blut brauchen. Sie werden weiterleben wie bisher, unsterblich. Und es wird keinen Krieg mehr geben.«
»Ja«, sagte Mattim bitter. »Wenn alles dunkel geworden ist, wird niemand mehr gegen das Licht kämpfen. Aber auch niemand mehr dafür. Ist es nicht das, was wir wollten? Eine friedliche Welt, in der alle einander gernhaben?«
Sie verschränkte ihre Hände mit seinen. »Vergiss nicht, wer du bist. Bitte, Mattim, hör auf, so zu reden. Für das Licht. Nur das zählt. Für Réka und das Licht.«
»Wie viele Opfer darf das Licht bringen, bevor es seine Berechtigung verloren hat? Bevor es so grau ist, dass niemand mehr es von den Schatten unterscheiden kann?«
Wieder gab sie ihm Kraft. »Nein. Du nicht. Du nicht. Du wirst immer strahlen. Du wirst immer der sein, der du bist.«
»Das werden wir sehen, wenn wir am Ende angekommen sind«, sagte er leise. »Halte meine Hand fest, bleib ganz nah bei mir, bitte. Jetzt lassen wir es beginnen.«
ACHTUNDZWANZIG
Akink, Magyria
Mirita fühlte sich trotz des Pulks von Soldaten, die vor, neben und hinter ihr marschierten, so unsicher und schutzlos wie nie. Aus der Stadt kam immer noch der Lärm, gegen den sie sich innerlich wappnete und den sie doch nicht ausschließen konnte, weder aus ihren Ohren noch aus ihrem Herzen. Schreie. Und Wölfe. Und Wölfe und Schreie. Sie hatte das Gefühl, dass um sie her alles zerbrach, dass die Dunkelheit der Nacht nie finsterer gewesen war. Hinter ihr leuchtete die Burg aus unzähligen Fenstern, ein schimmerndes Abbild der Hoffnung.
Als sie sich der Brücke näherten, sank ihre Zuversicht, dass die Wächter die Feinde zurückgeschlagen hatten. Auf der gesamten Länge der Brücke waren die meisten Lampen zu Bruch gegangen, und die Soldaten, die sich an den vordersten Pfeilern postiert hatten – ein wirrer Haufen, eilig aus den näheren Stadtteilen zusammengezogen –, hielten die Eindringlinge, die sich auf der Brücke versammelt hatten, nicht wirklich in Schach. Diese waren fertig mit ihrem Werk, trotzdem war es schwer zu glauben, dass in den Uniformen der Flusswache, die sie dort im Dunkeln erkennen konnte, Schatten steckten.
Es waren nicht so viele, wie sie befürchtet hatte. War es nicht doch möglich, sie zu vertreiben? Aber dann wurden im Schein der verbliebenen Lampen die Wölfe sichtbar. Große Wölfe. Schattenwölfe, deren stille Gegenwart genügte, um die uralte Furcht vor der Bestie in jedem lebenden Menschen zu wecken. Die Flusshüter traten zur Seite, und zwischen ihnen erschien die Meute der tödlichen Geschöpfe, bereit, sich wie ein Wasserfall in die Stadt zu ergießen.
Sie musste schnell handeln, bevor es zu spät war.
»Wartet!«, rief sie laut. »Wartet! Wir haben Geiseln! Wir haben euren König! Wer ist hier, um mit uns zu verhandeln?«
Sie hatte befürchtet, dass es Mattim sein würde. Zugleich hatte sie gehofft, dass er es war.
Er trat vor, zwischen den Wölfen hindurch, als watete er durch die graue Flut. Sein Gesicht konnte sie in der Düsternis nicht sehen, aber seine Bewegungen waren ihr vertraut; immer und überall hätte sie Mattim erkannt. Er blieb stehen. Die Bogenschützen standen bereit; er wusste natürlich, wo sie sich verbargen, und hielt sich aus ihrer Reichweite.
»Kunun lebt?«, rief er ihr zu. »Und das Mädchen auch?«
Früher einmal hatte sie geglaubt, seine Gefühle erraten zu können. Alle seine Empfindungen, seine Wünsche und Befürchtungen. Doch diese Stimme war ihr fremd, sie klang hart und kalt. Die Stimme des Feindes.
»Ja!«, antwortete Mirita. »Der König und die Königin haben mich autorisiert, darüber zu verhandeln!«
»Ich komme jetzt nach vorn«, kündigte er an. »Wenn die Pfeile mich treffen, werden sie mich nicht umbringen. Ich hoffe, das ist euch bewusst. Aber sobald das geschieht, ist die Verhandlung beendet, und ich stürme die Stadt – mit meinen Wölfen.«
»Dann ist der Jäger verloren.«
»Es geht nicht um Kunun«, sagte Mattim und trat ins Licht des Vorplatzes. Sein goldenes Haar leuchtete auf, und selbst durch die Reihen der Soldaten ging ein Raunen. »Es geht um Akink.«
Mirita fühlte, wie einer ihrer Kameraden ihr ermutigend auf die Schulter klopfte. Sie spürte die allgemeine Anspannung.
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