Magyria 02 - Die Seele des Schattens
Unzählige Pfeile waren bereit zu fliegen. Aber man konnte einen Schatten nicht erschießen, sosehr es jeden von ihnen auch danach verlangte.
Sie nahm all ihren Mut zusammen, und als sie über den Platz auf ihn zuging, zitterten ihr nicht einmal die Knie.
»Mattim«, – es würde ihm gefallen, wenn sie ihn beim Namen nannte –, »der Jäger ist euer König. Glaubst du, ich weiß nicht, warum ihr ausgerechnet jetzt diesen Angriff gestartet habt? Ihr wollt ihn zurückhaben. Und das Mädchen. Besonders das Mädchen.«
Einen Moment lang wirkte er irritiert. »Wie kommst du darauf?«
»Dein Bruder hat es uns gesagt«, erklärte Mirita. »Er hat uns vorher gesagt, sie würde kommen. Und dass wir gut auf sie achtgeben sollten, denn sie wäre der Schlüssel. Allerdings hat er nichts davon erwähnt, dass du hier auf der Brücke auftauchen würdest.«
Seine Augen verrieten nichts. Sie stand jetzt nur zwei, drei Meter von ihm entfernt, und unwillkürlich lief ein Schauder durch ihren ganzen Körper. Nur mit Mühe gelang es ihr, das Beben aus ihrer Stimme herauszuhalten.
»Zieh die Schatten zurück«, forderte sie. »Dann bekommt ihr die beiden.«
Würde er darauf eingehen? Wie viel bedeutete ihm dieses Wrack von einem Mann? Was hatte es mit diesem Mädchen auf sich? Und wie viel bedeutete ein Versprechen?
Die Königin hatte darüber Auskunft verlangt. »Wenn wir einen Vertrag schließen, werden die Schatten sich daran halten? Was für Garantien kann es geben?«
Wie ungerecht , hatte Mirita gedacht, dass man von mir erwartet, Dinge zu wissen, die niemand weiß, ja, die überhaupt niemand wissen kann .
Warum hätte sie besser über die Schatten Bescheid wissen sollen als irgendjemand sonst?
»Du kennst ihn«, hatte Elira gesagt, ihr Blick gehetzt, in ihrer Stimme die Panik, die über der ganzen Stadt lag, konzentriert zu unerträglicher Schärfe und Bitternis. »Du kennst ihn doch, was wird er tun?«
Nein, sie kannte Mattim nicht. Sie hatte geglaubt, dass er sie liebte, aber das stimmte nicht. Er kämpfte für Akink und versprach, die Schatten würden ihre Kraft verlieren – und dann kam alles ganz anders. Er tauchte in der Stadt auf, eine tödliche Bedrohung – und dabei ging es ihm nur um dieses Mädchen. Er floh, und in den unterirdischen Gängen wimmelte es von Wölfen. Wer war er? Was wollte er? Wen liebte er? Sie hatte keine Ahnung.
Ganz Akink war ein zu hoher Preis für zwei Gefangene. Sie alle wussten das, auch die Schatten. Und dennoch: Der Jäger, der ihr König war … und dieses dunkelhaarige Mädchen mit dem wilden Blick und der verletzten Hand. Die einzige Chance für Akink.
»Die Brücke«, sagte Mirita. »Sofort. Ihr geht wieder zurück in den Wald oder wo immer ihr hergekommen seid. Verlasst die Stadt.«
Mattim lächelte traurig. Es war sein Gesicht. So vertraut, so geliebt. Immer noch. Immer noch der leise Spott in seiner Stimme, diese Leichtigkeit, die er, wohin er auch ging, mit sich trug wie einen Glanz, von dem er selbst nichts wusste, wie Schmetterlinge in seinem Haar.
»Kunun gegen Akink?«, sagte er. »Einer allein gegen eine ganze Stadt! Das ist unverhältnismäßig, wie ihr sehr gut selbst wisst. Was hast du mir sonst anzubieten?«
»Nicht bloß einer allein. Dieses Mädchen ist für euch wichtig, das wirst du nicht leugnen. Und er sowieso. Euer König. Das ist er doch, oder?«
»Er war es«, entgegnete Mattim. »Jetzt bin ich es.«
Vielleicht war das die Erklärung für dieses Neue in seinem Auftritt. Die seltsame Strenge und Kühle, die ihn umgab wie einen Königsmantel. Plötzlich sehnte Mirita sich von ganzem Herzen nach dem alten Mattim, mit dem sie gescherzt und gelacht hatte. Nach dem Mattim, der sie zu Hause besucht hatte, den Kopf voller schwerer Gedanken und Pläne, mit einem verzweifelten Zug um die Lippen, der unermüdlichen Sorge um Akink. Und doch immer so jung dabei, so jungenhaft.
»Du bist jetzt ihr König?« Sie hatte der Königin versprochen, dass es gelingen würde. Hatte das Vertrauen empfangen wie einen Segen. Es musste gelingen, es musste! Was konnte Akink noch retten, wenn die Schatten sich nicht um Kunun scherten? War das junge Mädchen tatsächlich der Schlüssel? Hatte der Jäger sein Schicksal deswegen an ihres gehängt?
»Ich bin es«, wiederholte Mattim. »Das sind meine Schatten. Meine Wölfe. Und meine Brücke.«
»Das heißt, die Schatten, die hier in der Stadt ihr Unwesen treiben, werden auf dich hören? Du kannst sie abrufen?«
Wieder dieses
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