Magyria 02 - Die Seele des Schattens
ich dich nicht mehr sehen, und das könnte ich nicht ertragen. Weißt du, was mein größtes Glück wäre? Dafür zu sterben, dass du leben und glücklich sein kannst, im Licht.«
Nur ein Herzensgefährte konnte so etwas sagen. Nur was nützte es, wenn sie seine Gefühle nicht erwiderte?
»Du verschwendest deine Liebe«, sagte sie. »Gib sie jemand anders.«
»Ach ja«, murmelte er. »Wenn ich das nur könnte.«
SECHS
Budapest, Ungarn
Hanna schrak hoch, schweißgebadet. Angestrengt starrte sie in die Dunkelheit ihres Zimmers, horchte auf fremden Atem, während ihre Hand nach dem Lichtschalter tastete. Die Lampe tauchte den Raum in ein gelbliches Licht, in dem alle Gegenstände merkwürdig fremd wirkten.
Niemand war da.
Wann hörte es jemals auf? Bei jedem Geräusch fürchtete sie, Kunun vor sich zu sehen. Jeden Tag, jede Nacht, jede Stunde erwartete sie, dass er plötzlich vor ihr stand. Wie sinnlos, auf den Atem eines Mannes zu horchen, der nicht atmete. Sich zu verstecken hatte keinen Zweck. Manchmal zuckte in ihren Füßen die Sehnsucht nach Flucht. Zu laufen, einfach nur zu laufen, immer weiter fort. Sich ein Taxi zum Flughafen zu nehmen und zu verschwinden, irgendwohin, wo er sie nicht finden würde. Vielleicht würde Kunun sie dann sogar in Ruhe lassen. Er würde seine Zeit nicht damit verschwenden, sie zu suchen, sondern sich weiterhin seinem Krieg widmen. Dem Krieg gegen Akink, der sie nichts anging. Magyria – eine fremde Welt, von der sie sich weigerte zu träumen. Manchmal kamen die Bilder zu ihr. Ein Wald im Schnee. Ein Fluss, breit, eisüberfroren, und dahinter sanft glühend die Umrisse der Stadt, einer gewaltigen Burg.
Sie konnte nicht wieder einschlafen. Sie wagte nicht einmal, sich im Bett hin und her zu wälzen. Stocksteif lag Hanna da und lauschte in die Dunkelheit, aus der jederzeit ein Schatten auftauchen konnte, um etwas Schreckliches von ihr zu verlangen.
Müde machte sie Attila für die Schule fertig, sah in Rékas blassem, unfreundlichem Gesicht ein Spiegelbild ihrer selbst, würgte irgendetwas hinunter, das ihr nicht schmeckte.
Wann hört es auf? Wann?
Sie sehnte sich nach Mattim, aber sie verbot es sich selbst, zu ihm zu gehen. Er hatte natürlich sofort gemerkt, dass etwas nicht stimmte, und sie wusste nicht, wie lange sie es noch aushielt, ihm nichts zu sagen. Sie konnte sich genau vorstellen, wie er sie ansehen würde. Voller Mitleid und heimlichem Entsetzen. Als Nächstes würde er zu Kunun gehen und ihn zur Rede stellen. Und Kunun entweder angreifen oder ihm seinerseits irgendetwas versprechen, damit sein Bruder Hanna in Ruhe ließ. Mattim würde furchtbar wütend sein – und vielleicht etwas wirklich Dummes tun. Etwas Heldenhaftes, das ihn selbst vernichtete. Vielleicht würde er wieder die Knie vor dem Schattenprinzen beugen, sich seiner Herrschaft unterwerfen, wie er es schon einige Male zum Schein getan hatte. Aber jemand wie Mattim konnte nicht mit Lüge und Verstellung leben.
Das durfte sie ihm nicht antun. Das hier war ihr Problem, sie musste selbst sehen, wie sie damit fertig wurde.
Hanna schlich durchs Haus, beobachtete die alte Magdolna beim Staubwischen, blätterte sich durch ihr Sprachbuch. Die Stunden vergingen endlos langsam. Mattim würde nicht kommen, nicht an diesem Tag, wenn die Putzfrau da war. Sie musste stark sein und sich von ihm fernhalten. Stark sein. Aber sobald sie an Kunun dachte, schmolz all ihre Stärke dahin. Sie musste sich nur vorstellen, ihm gegenüberzustehen, und ihre Beine begannen zu zittern. Sie wollte es hinter sich bringen, so schnell wie möglich. Aber als sie Schritte hinter sich hörte, fuhr sie ächzend herum und dachte dabei nur: Nicht jetzt! Oh Gott, nicht jetzt!
Es war Magdolna. »Ich bin fertig.« Die kleine alte Frau blinzelte sie aus zusammengekniffenen Augen an. »Alles in Ordnung, Hanna?«
Sie nickte, stumm, ein Kloß steckte in ihrem Hals.
Als Mattim die Treppe hinunterging, war es weit nach Mitternacht. Er hatte jetzt schon so lange kein Blut getrunken, dass er nur noch nachts aus dem Haus konnte. Hanna war sicher längst im Bett. Hoffentlich schrie sie nicht, wenn er in ihr Zimmer kam; in letzter Zeit war sie unglaublich schreckhaft.
Ein Geräusch ließ ihn innehalten. Vorsichtig spähte Mattim über das Geländer in das darunterliegende Kaminzimmer. Der flackernde Lichtschein beleuchtete ein recht junges Gesicht von vielleicht Mitte zwanzig. Ein gut aussehender Ungar mit schwarzem Haar und einem Bärtchen
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