Magyria 02 - Die Seele des Schattens
dem Gang, als der König des Lichts das Verlies betrat. Hanna wusste nicht, welches Verhalten er von ihr erwartete, doch nachdem sie gerade eben seine Stadt vernichtet hatte, war es ein bisschen spät, sich jetzt noch vor ihm zu verbeugen.
Der König trug Weiß. Der Stoff seines Gewandes glänzte seidig, war aber ansonsten völlig schlicht. Nur am Kragen seiner Tunika war eine kleine Verzierung eingestickt.
Als sie einander beim letzten Mal begegnet waren, hatte sie keine Zeit gehabt, ihn näher zu betrachten. Auch jetzt entdeckte sie nicht die geringste Ähnlichkeit mit Mattim. Sie sah einen schlanken, dunkelhaarigen Mann vor sich. Er konnte genauso gut vierzig sein wie fünfzig, ein altersloses Gesicht, recht gut aussehend und doch so unauffällig, dass sie auf der Straße an ihm vorbeigegangen wäre, ohne in ihm die Sonne von Akink zu erkennen. Er leuchtete nicht. Vielleicht war da eine schwache, eine ganz schwache Ähnlichkeit mit Kunun. Etwas in seinem Gesicht, das immer ernst bleiben würde, selbst wenn er lächelte.
Doch Farank lächelte nicht. »Warum?«
Sie hatte mit allem gerechnet, mit Vorwürfen oder mit Drohungen, aber diese einfache Frage traf sie wie nichts anderes.
Er deutete ihr Schweigen falsch; vielleicht hielt er sie für besonders verstockt.
»Ich kenne dich«, sagte er. »Du gehörst zu den Schatten, mit ihnen habe ich dich gesehen. Es überrascht mich zu hören, dass du selbst keiner bist.«
»Ich bin ein Mensch«, begann sie, »Mattims …«
Doch er unterbrach sie sofort. »Nicht!«, rief er aus. »Nicht diesen Namen! Es gibt ihn nicht mehr. Lass mich nie wieder davon hören!«
Hanna schwieg betroffen. Wie hatte sie glauben können, ihre Beziehung zu Mattim würde ihr hier heraushelfen? Es machte alles nur noch schlimmer, und ihr blieb nichts, was sie für sich selbst vorbringen konnte.
»Was haben sie dir dafür versprochen? Einen Verrat zu begehen, von dem ich glaubte, kein einziger Mensch in ganz Magyria würde sich dazu hinreißen lassen! Es war unser einziger Vorteil, dass die Feinde kein zweites Mal über den Fluss können. Das Eis ist geschmolzen. Doch nun … Haben sie dir nicht gesagt, was das für ein Wolf ist?« Trotz allem bot er ihr noch diesen einen Ausweg: die Unschuldige zu spielen. »Wir werden die dunkle Saat, die du gesät hast, ausreißen. Wir werden niemanden am Leben lassen, der dem Wolf begegnet ist. Wir sind noch lange nicht besiegt, denn es ist euch nicht gelungen, heimlich herzukommen. Wir werden den bösen Keim zertreten, nur zu welchem Preis? Jeder hat Angst vor jedem. Jeder könnte ein Schatten sein. Jeder könnte der Feind sein. Alle haben sich in ihren Häusern verbarrikadiert.«
Hanna schwieg. Sie wollte weinen, aber sie konnte nicht. Alles in ihr war wie eingefroren. Farank wusste es nicht. Er wusste nichts davon, wie die Pforten geöffnet wurden, nichts von den vielen Türen, die es hier bald geben würde, nichts von Kununs Leuten, die sich vielleicht jetzt schon darauf vorbereiteten, hier einzufallen. Er glaubte immer noch, er könnte seine Stadt retten.
»Was haben sie dir versprochen?«, fragte König Farank. »Was kann so viel Leid wert sein?«
Sie ertrug seine Verachtung nicht, obwohl ihr das nicht so schlimm vorkam wie die Tatsache, dass er nicht einmal wusste, was sie wirklich getan hatte. Dass sie noch viel mehr Verachtung verdiente.
Eine Traumstadt für einen lebendigen Jungen. Nur dass alle hier so lebendig waren, wie Mattim lebendig war. Wie Kunun. Wie Atschorek. Wie sie selbst.
»Ich bin für einen kleinen Jungen verantwortlich«, sagte sie. »Wenn ich es nicht geschafft hätte, den Wolf nach Akink zu bringen …«
Der König lachte leise und unfroh. »Für einen kleinen Jungen? Für einen einzigen Jungen reißt du eine Schneise des Todes in diese Stadt? Bist du die Mutter?«
Hanna schüttelte den Kopf. »Ich bin für ihn verantwortlich.« Sie flehte um sein Verständnis, auch wenn sie wusste, dass sie es nie erhalten würde. »Ich musste es tun. Ich konnte ihnen Attila nicht überlassen. Niemals.«
»Ich bin für diese Stadt verantwortlich«, sagte Farank. »Glaub mir, ich weiß, vor welcher Wahl du standest. Dennoch könnte kein einziges meiner Kinder das Leben der vielen aufwiegen, deren König ich bin.«
Sie musste es ihm sagen. Eine Pforte, die Sie nicht schließen können. Der Wolf wird nicht nur eine Schneise der Verwüstung hinterlassen, sondern sein Weg wird sein wie ein Flur, zu beiden Seiten die Türen zu den Zimmern.
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