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Mahlstrom

Titel: Mahlstrom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Watts
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wurden, aber Lindsey erzählt viel, wenn der Tag lang ist. Eigentlich sollten wir im Augenblick für unsere Praktika büffeln, aber das hier versprach, aufregender zu werden.«
    »Aufregend.« Diese kalten, leeren Augen – die durchsichtiger waren als die dicken Linsen, die die anderen trugen, wie Vive feststellte – blickten auf sie herab. »So würde ich es nicht bezeichnen.«
    Vive kam eine Idee.
    »He«, sagte sie. »Es gibt da tatsächlich etwas, das die nötige Feldstärke erzeugen könnte. Und tragbar ist es auch. Es wird nicht leicht – wir müssen ein wenig an seinem Innenleben herumbasteln, damit es nicht die falsche Aufmerksamkeit auf sich zieht –, aber darum brauchen Sie sich nicht zu kümmern.«
    »Ach ja?«, fragte Lenie.
    »Ja«, erwiderte Vive. »Kein Problem.«
     
    Les beus hatten die Menge umzingelt und drängten sie durch die Wartehalle zurück. Die Rifter am Rand der Menge bekamen natürlich die Elektroschocker zu spüren, aber zumindest waren bisher noch keine Gasbomben eingesetzt worden. Die Menge wogte wie ein Ozean, gewaltige Wellen erhoben sich auf wundersame Weise aus dem Gedränge von einer Million gefangener Partikel. Der Vergleich ging sogar noch weiter, wie Vive wusste: Auch in menschlichen Ozeanen gab es eine Rückströmung und einen Sog. Menschen konnten unter die Oberfläche gezogen und niedergetrampelt werden.
    Sie ließ sich von den Strömungen davontragen. Jen und Lindsey folgten auf- und abwogend links und rechts von ihr. Vive hatte ihren beiden Freundinnen von ihrem Vorhaben erzählt, und diese hatten es wiederum an zwei andere weitergegeben und so weiter und so fort. Um sie herum spalteten sich unter der Oberfläche einzelne Teilchen von der Menge ab. Anfangs war es kaum wahrnehmbar. Von allen Seiten bahnten sich Menschen einen Weg durch die Menge, kreuzten entgegen der Strömung, bis sie nur noch eine Armeslänge oder zwei von Vive et al. entfernt waren. Blicke wurden ausgetauscht, man nickte sich gegenseitig zu. Die Turbulenz löste sich ein wenig auf, als Freunde und Verbündete einander gegen den Sog der Menge Halt gaben.
    Innerhalb weniger Minuten befand sich Aviva Lu in der Mitte eines Ruhepols im Innern der Menschenmenge.
    Ein paar Meter über der Menge kamen drei Mechfliegen in Formation angeflogen und leierten die üblichen Plattitüden des Gesetzes zu öffentlichen Versammlungen herunter. Vive sah Jen an, doch diese schüttelte den vom Visor verdeckten Kopf. Die Maschinen flogen vorbei, an ihren Bäuchen befanden sich die Ausbuchtungen von Waffenmündungen.
    Jen zog an ihrem Ärmel und deutete auf eine andere Fliege, die durch die Wartehalle näher kam. Vive zog sich ihren eigenen Visor über die Augen und zoomte das Ziel heran. Waffenöffnungen oder Lichtbogenelektroden waren keine zu sehen. Es handelte sich also um eine reine Überwachungsmechfliege. Ein besseres Diktiergerät. Vive sah Jen an und dann Lindsey.
    Beide nickten.
    Vive nahm den Visor ab und befestigte ihn an ihrem Gürtel. Für manche Dinge brauchte man eben doch seine eigenen Augen. Sie legte Jen und Lindsey die Arme um die Schultern – drei gute Freundinnen, die ein bisschen Spaß zusammen hatten, nichts Ungewöhnliches. Durch die Menschenmenge war nicht zu sehen, wie Vive die Beine anzog, sodass ihr gesamtes Gewicht nunmehr auf den Schultern ihrer Freundinnen lastete. Dann stellte sie sich auf den improvisierten Steigbügel, den Jen und Lindsey mit den verschränkten Händen bildeten. Die Fliege kam näher und tastete dabei die Menge ab. Vielleicht interessierte sie sich für diesen plötzlichen Knoten der Stabilität mitten in dem Sturm aus Brown'scher Teilchenbewegung. Vielleicht war sie auch zu einem ganz anderen Ziel unterwegs.
    Wenn ja, dann kam sie jedenfalls nie dort an.
    Die Mechfliege wäre für jemanden, der ohne fremde Hilfe vom Boden hochsprang, nicht zu erreichen gewesen. Doch für jemanden, der mit Endorphinpflastern vollgepumpt war und auf doppelte Verstärkung zählen konnte, war sie ein leichtes Ziel. Jen und Lindsey gingen kurz in die Hocke, hoben Vive mit einem Ruck hoch und schleuderten sie in die Luft. Zugleich stieß sich Vive von ihren Händen ab. Sie verwandelte sich in Superwoman, während die Endorphine ihren Körper zum Klingen brachten. Wie ein großes, schönes Osterei schwebte die Mechfliege in ihre Arme. Sie schlang die Arme darum und hielt sie fest umklammert.
    Die Mechfliege hatte keine Chance. Sie bestand aus federleichten Polymeren und Vakuumblasen, und ihre

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