Mahlstrom
Delfingrinsen hatte selbst den Tod überstanden. Die rechte Körperhälfte war gänzlich verschwunden.
Gandhi war auf einem Gewirr aus gebogenen Stahlstangen aufgespießt. Die Strömung bewegte sich an dieser Stelle vom Ufer weg. Den Delfin musste sein Schicksal also näher am Uferdamm ereilt haben. Lubin schwang den Tintenfisch herum und schwamm gegen den Strom weiter.
»… ören … Lu … ich?«
Die Wortfetzen surrten durch seinen Unterkiefer, waren jedoch über dem Hintergrundtosen kaum zu verstehen. Einer Eingebung folgend drehte Lubin den Empfang seines Stimmwandlers hoch. »Halten Sie diesen Kanal frei. Cl …«
Der Klang seiner Stimme, die vom Stimmwandler in ein raues, metallisches Surren verwandelt wurde, überraschte ihn. Es war Monate her, seit die Implantate das letzte Mal seine Stimme auf diese Weise entstellt hatten. Es erfüllte ihn beinahe mit einer gewissen Nostalgie.
»Kein Kontakt«, fuhr er fort. »Clarke besitzt L-FAM-Implantate. Sie könnte uns womöglich abhören.«
»… itte?«
Doch selbst wenn Clarke den richtigen Kanal eingeschaltet hatte, war es fraglich, ob sie einen besseren Empfang haben würde als er selbst. Akustische Modems waren nicht auf den Einsatz in der Nähe von Wasserfällen gedacht.
Und warum sollte sie überhaupt die Kanäle abhören? Woher soll sie wissen, dass ich hier bin?
Doch er wollte kein Risiko eingehen. Er verhielt sich genauso still wie seine Gegnerin, wo immer sie sich auch befinden mochte, während der See um sie her toste.
Intuition ist keine Hellseherei. Und auch kein Rätselraten. Intuition ist eine Art Zusammenfassung , die die 90 Prozent des Gehirns liefern, die zwar unterbewusst, aber nicht weniger effektiv arbeiten als die bewussten Subroutinen, die sich selbst für die Person halten. Lubin schwamm durch eine Dunkelheit, die so undurchdringlich war, dass er kaum den Tintenfisch sehen konnte, der ihn vorwärts zog. Er gab der Maschine den Befehl, ihm zu folgen, und kroch durch ein totes, labyrinthartiges Dickicht aus Trümmern und Abfall. Dornen und gezackte Kanten wucherten unter Schichten aus Schleim hervor, die sie täuschend nachgiebig erscheinen ließen. Die Strömung trug ihn vom Ufer weg, packte ihn und schleuderte ihn gegen das Fundament des Uferdamms selbst. Er kraxelte wie eine Krabbe seitwärts weiter, auf grauen, glatt gescheuerten Oberflächen. Drückte sich dicht an die Mauer, während das Wasser versuchte, ihn fortzuzerren und davonzuschleudern. Er ließ sich von intuitiven Unterprogrammen leiten, wog Szenarien ab, durchstöberte Erinnerungen und dachte an die herrlichen Zeiten zurück, als Lenie Clarke noch dieses Motiv oder jene Vorliebe enthüllt hatte. Er nahm einige mögliche Zufluchtsorte näher in Augenschein und ging über andere hinweg, ohne dass er hätte sagen können, warum. Doch alle Teile von Ken Lubin waren gut und gründlich ausgebildet worden: der Hirnstamm und die analytischen Unterprogramme ebenso wie der kleine Homunkulus, der hinter seinen Augen hockte und sein Bewusstsein bildete. Jeder von ihnen wusste, was er tun musste und was er besser den anderen überließ.
Deshalb war es auch nicht vollkommen unerwartet, dass er schließlich auf Lenie Clarke stieß, die sich im Schatten eines der absurden Wasserfälle von Chicago versteckte, in eine Schlucht aus Trümmern des vergangenen Jahrhunderts ge duckt.
Sie war in schlechter Verfassung. Ihr Körper war auf eine Weise gekrümmt, die darauf schließen ließ, dass Gandhis Attacken ihr Ziel nicht verfehlt hatten. Ihre Taucherhaut war entlang des Brustkorbs aufgerissen, entweder durch den Angriff des Delfins oder durch die scharfkantigen Trümmerstücke, die den Grund des Sees bedeckten.
Außerdem bevorzugte sie ihren linken Arm. Aber sie hatte ihr Versteck gut gewählt: zu viel Lärm für die Echolotung, zu viel Metall für die Ortung elektromagnetischer Signaturen, zu viel Zeug im Wasser, als dass irgendjemand, der nicht über die Augen und Instinkte eines Rifters verfügte, sie hätte entdecken können. Burton hätte einen Meter von ihr entfernt vorbeischwimmen können und hätte sie nicht einmal bemerkt.
Braves Mädchen , dachte er.
Sie blickte von ihrem Versteck auf, ihre ausdruckslosen weißen Augen begegneten seinen durch zwei Meter milchiges Chaos, und er wusste augenblicklich, dass sie ihn erkannt hatte.
Gegen jede Vernunft hatte er gehofft, dass es nicht so wäre.
Es tut mir leid , dachte er. Ich habe wirklich keine andere Wahl.
Natürlich hatte sie
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